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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2006 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2006
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 6. Mai 2006
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Lachmann, Renate: Kulturkonzepte im Rußland des 20. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.66961#0062
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SITZUNGEN

Zügen), die den Verlust der Pravda, des idealen Reiches und idealen Zaren zu kom-
pensieren versuchen. Die Restitution der Pravda wird nicht nur in endzeitlichen und
jetztzeitlichen Vorstellungen betrieben, sondern manifestiert sich auch in dem von
ortho- und heterodoxer Religiosität getragenen Konzept der Verklärung. Verklärung
meint zum einen die Überwindung des Pravda-Krivda-Dualismus, der im Seele-
Leib-, Geist-Materie-Dualismus sich spiegelt, zum andern die spiritualisierende Ver-
wandlung alles Bestehenden: der Dinge, Menschen, des Gemeinschaftswesens, des
Staates, der Politik. Die Suche nach der Pravda und das Verklärungsbegehren moti-
vieren zu religiösen Wanderschaften. Die suchenden Wanderer, stranniki, werden
konstitutiver Bestandteil russischer Volksfrömmigkeit. Neue Erlöserfiguren werden
imaginiert, so auch im 20. Jahrhundert. Daneben geht die Neuschreibung der russi-
schen Geschichte von statten, mit dem Versuch, die „leeren Flecken“ zu füllen — die
Geschichte des GULAG ist ein zentraler Punkt. Die Konfrontation mit einer ‘schul-
dig’ gewordenen, herandrängenden Vergangenheit verlangt nach Antworten. Zurück-
weisung und Verurteilung, aber auch Leugnung und Uminterpretation des Gesche-
henen, ja Versuche der Löschung und des aktiven Vergessens sind beobachtbare
Reaktionen. Während sich eine andere Gruppe der Gesellschaft den Aufgaben ver-
pflichtet sieht, die mit der Aufarbeitung der Vergangenheit, der Öffnung der Mas-
sengräber, der Korrektur der historischen Texte verbunden sind (und deren Durch-
führung keinesfalls komplikationslos ist). Die Grundstrukturen der referierten
Konzepte lassen sich trotz der ideologischen Zersplitterung der Gesellschaft wieder-
erkennen: Bewahrung der Tradition, Restitution der Sowjetunion, Wiederaufrich-
tung der Monumente einerseits, der Versuch in Literatur und bildender Kunst, mit
dem schweren Erbe fertigzuwerden, ohne es zu leugnen, andererseits. Auch die tra-
ditionellen Antagonismen zwischen prowestlich und antiwestlich spielen ihre Rolle.
Zu den antiwestlichen, ja antieuropäischen Ideen gehört die von einigen Historikern
mitvertretene Auffassung, daß die gewaltsame Öffnung nach Europa Rußland ver-
fälsche, und daß es gelte, die Mongolenherrschaft als die russische Kultur prägend
zu akzeptieren. Die zumindest seit dem 17.Jahrhundert bekannten (weitgehend
antiwestlich orientierten) Sektenbewegungen sind erstarkt, wobei die Rückzugsbe-
wegung aus Staat und Institutionen prägend ist. Der Versuch einer Re-Christiani-
sierung mit unterschiedlichen Schwerpunkten ist ebenso zu beobachten wie
Re-Paganisierungstendenzen im Sinne einer Rückkehr in Vorchristliches, Slawisch-
Mythisches. Einblicke in diese Verhältnisse gewähren kulturtheoretisch ausgerichte-
te Analysen auf hohem Niveau.
 
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