15. Juli 2006
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Dass in diesem biblischen Schöpfungsbericht eine sehr nuancierte Wirklich-
keitswahrnehmung vorliegt, kann gerade dann deutlich werden, wenn man schein-
bare Ungereimtheiten des Textes thematisiert. Eine solche Ungereimtheit scheint
vorzuliegen in der Spannung von Genesis 1,3—5 und Genesis 1,14 ff, wenn es einer-
seits heißt: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht. Gott sah, dass das
Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis. Und Gott nannte das Licht
Tag, und die Finsternis nannte Gott Nacht. Und es wurde Abend und es wurde
Morgen, der erste Tag“ — und wenn andererseits Genesis 1,14—19 die Erschaffung
der Gestirne, die Tag und Nacht scheiden sollen, thematisiert wird. Wie konnte Gott
Licht schaffen, ohne Gestirne einzubeziehen? Warum wird die Scheidung von Tag
und Nacht zweimal vollzogen? Wird sie nun direkt von Gott durchgeführt, oder
sollen die Gestirne Tag und Nacht scheiden? Solche Fragen, die sich scheinbar
gescheit über den vermeintlich naiven und die Gedanken nicht ins Klare bringen-
den Text erheben, nehmen die subtile Wirklichkeitssicht nicht wahr, die hier ent-
wickelt wird.
Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift denkt in zwei Zeitsystemen, einmal
die Tage Gottes, zum anderen die Tage dieser Welt, die durch die Gestirne rhythmi-
siert werden. Natürlich verfügt der priesterschriftliche Schöpfungsbericht nicht über
unser kosmologisches Wissen. Die größtmögliche Zahl, die die Autoren der alttesta-
mentlichen Überlieferungen denken können, war wohl die Daniel 7,10 genannte,
wo es über die himmlischen Heerscharen vor Gott heißt: „Zehntausend mal Zehn-
tausende standen vor ihm.“ Dreizehn Milliarden Jahre sind also für die biblischen
Autoren noch nicht denkbar. Aber auch wir operieren mit dieser Größe erst seit dem
20. Jahrhundert. Dass die biblischen Texte allerdings Gottes Zeit und die Zeit unter
dem Himmel in Analogie sehen, dass sie sie dennoch unterscheiden, wird in solchen
Aussagen deutlich wie Psalm 90, 4: „Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag,
der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht.“
Die Tage Gottes sind große Zeiteinheiten, in denen ein differenzierter Zusam-
menhang von Wirklichkeiten und Lebensprozessen erschaffen wird, die wir heute in
kosmologische, biologische, kulturelle und religiöse Prozesse auseinander treten las-
sen. Das schöpferische Wirken erweist sich in der komplexen Verbindung dieser sehr
verschiedenen Wirkungs- und Lebensbereiche. Im Schöpfungsgeschehen werden
komplexe Interdependenzen zwischen verschiedenartigen Lebensbereichen herge-
stellt. Erst in der Bestimmung füreinander und in der Verschränkung ineinander
werden die kosmischen, biologischen, kulturellen und religiösen Lebensbereiche zur
„Schöpfung“ im strengen Sinne.
Eine zweite Irritation erlaubt es uns, die Subtilität des priesterlichen Schöp-
fungsberichts weiter zu erschließen. Einerseits wird davon gesprochen, dass Gott
scheidet, hervorbringt, schafft, setzt, etc. Andererseits wird den Geschöpfen, oft mit
denselben Verben, die scheidende, herrschende, hervorbringende, entfaltende, sich
reproduzierende Tätigkeit zugesprochen. Die differenzierte Eigenaktivität des
Geschöpflichen wird - ohne aufzuhören geschöpfliche Eigenaktivität zu sein - mit
Gottes Schaffen wiederholt parallelisiert. So ist das Himmelsgewölbe dazu bestimmt,
selbst die Wasser zu scheiden und Raum zu schaffen und zu erhalten für die weite-
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Dass in diesem biblischen Schöpfungsbericht eine sehr nuancierte Wirklich-
keitswahrnehmung vorliegt, kann gerade dann deutlich werden, wenn man schein-
bare Ungereimtheiten des Textes thematisiert. Eine solche Ungereimtheit scheint
vorzuliegen in der Spannung von Genesis 1,3—5 und Genesis 1,14 ff, wenn es einer-
seits heißt: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht. Gott sah, dass das
Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis. Und Gott nannte das Licht
Tag, und die Finsternis nannte Gott Nacht. Und es wurde Abend und es wurde
Morgen, der erste Tag“ — und wenn andererseits Genesis 1,14—19 die Erschaffung
der Gestirne, die Tag und Nacht scheiden sollen, thematisiert wird. Wie konnte Gott
Licht schaffen, ohne Gestirne einzubeziehen? Warum wird die Scheidung von Tag
und Nacht zweimal vollzogen? Wird sie nun direkt von Gott durchgeführt, oder
sollen die Gestirne Tag und Nacht scheiden? Solche Fragen, die sich scheinbar
gescheit über den vermeintlich naiven und die Gedanken nicht ins Klare bringen-
den Text erheben, nehmen die subtile Wirklichkeitssicht nicht wahr, die hier ent-
wickelt wird.
Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift denkt in zwei Zeitsystemen, einmal
die Tage Gottes, zum anderen die Tage dieser Welt, die durch die Gestirne rhythmi-
siert werden. Natürlich verfügt der priesterschriftliche Schöpfungsbericht nicht über
unser kosmologisches Wissen. Die größtmögliche Zahl, die die Autoren der alttesta-
mentlichen Überlieferungen denken können, war wohl die Daniel 7,10 genannte,
wo es über die himmlischen Heerscharen vor Gott heißt: „Zehntausend mal Zehn-
tausende standen vor ihm.“ Dreizehn Milliarden Jahre sind also für die biblischen
Autoren noch nicht denkbar. Aber auch wir operieren mit dieser Größe erst seit dem
20. Jahrhundert. Dass die biblischen Texte allerdings Gottes Zeit und die Zeit unter
dem Himmel in Analogie sehen, dass sie sie dennoch unterscheiden, wird in solchen
Aussagen deutlich wie Psalm 90, 4: „Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag,
der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht.“
Die Tage Gottes sind große Zeiteinheiten, in denen ein differenzierter Zusam-
menhang von Wirklichkeiten und Lebensprozessen erschaffen wird, die wir heute in
kosmologische, biologische, kulturelle und religiöse Prozesse auseinander treten las-
sen. Das schöpferische Wirken erweist sich in der komplexen Verbindung dieser sehr
verschiedenen Wirkungs- und Lebensbereiche. Im Schöpfungsgeschehen werden
komplexe Interdependenzen zwischen verschiedenartigen Lebensbereichen herge-
stellt. Erst in der Bestimmung füreinander und in der Verschränkung ineinander
werden die kosmischen, biologischen, kulturellen und religiösen Lebensbereiche zur
„Schöpfung“ im strengen Sinne.
Eine zweite Irritation erlaubt es uns, die Subtilität des priesterlichen Schöp-
fungsberichts weiter zu erschließen. Einerseits wird davon gesprochen, dass Gott
scheidet, hervorbringt, schafft, setzt, etc. Andererseits wird den Geschöpfen, oft mit
denselben Verben, die scheidende, herrschende, hervorbringende, entfaltende, sich
reproduzierende Tätigkeit zugesprochen. Die differenzierte Eigenaktivität des
Geschöpflichen wird - ohne aufzuhören geschöpfliche Eigenaktivität zu sein - mit
Gottes Schaffen wiederholt parallelisiert. So ist das Himmelsgewölbe dazu bestimmt,
selbst die Wasser zu scheiden und Raum zu schaffen und zu erhalten für die weite-