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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2006 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2006
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 8. Dezember 2006
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Kolb, Frank: Troja - Wissenschaft, Politik und Geschichte an den Dardanellen
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https://doi.org/10.11588/diglit.66961#0088
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SITZUNGEN

WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Herr Frank Kolb hält einen Vortrag: „Troja — Wissenschaft, Politik und Geschichte
an den Dardanellen.“
Der Troianische Krieg war zwar im Unterschied zu Marathon kein fundierender
Mythos für europäische Identität, wohl aber für kriegerisches Heldentum. Noch im
Ersten Weltkrieg wurde er von beiden Kriegsparteien in Anspruch genommen, und
erst jüngst hat eine türkische Zeitung Mustafa Kemal Atatürk in der Nachfolge des
troianischen Helden Hektor gesehen. Atatürk selbst hatte als fundierenden Mythos
des von ihm gegründeten türkischen Nationalstaates die Vorstellung entwickelt, daß
die Türken Nachkommen und Erben der anatolischen Völker und Kulturen seien.
Zur Bekräftigung dieser anatolisch-türkischen Identität sollte die Grabungsarchäolo-
gie die türkische Vergangenheit aus dem Boden Anatoliens zutage fordern. Die
ionisch-griechische Kultur des westlichen Kleinasien wurde als eine anatolische
gedeutet, Anatolien wurde zum Ursprungsland von Humanität und Wissenschaft, die
Türkei zum Ursprungsland Europas. Folgerichtig wurde Homer zum anatolischen
Dichter, sein Epos zum frühen Dokument anatolisch-türkisch-europäischer Kultur.
Der Leiter der Tübinger Troia-Grabung, Manfred Osman Korfmann, knüpfte
in Übereinstimmung mit der türkischen Politik und ihren EU-Ambitionen an diese
türkische Blut- und Bodenideologie an und verkündete u.a., daß sich am Gra-
bungsort Troia — und nicht etwa nur in den homerischen Epen — starke Wurzeln der
abendländischen Kultur und damit der Weltkultur befänden. Wurde somit einerseits
ein neuer Mythos kreiert, der als historisches Argument benutzt werden kann, so
sollten andererseits die Tübinger Grabungen auf dem Hügel von Hisarhk — entge-
gen vorgeschützten Dementis — die Historizität des trojanischen Mythos beweisen.
Man folgte der Überzeugung Schliemanns, der Spaten könne die ‘Wahrheit’ zutage
fördern und den Mythos beglaubigen. Obwohl bereits im Hinblick auf die Gra-
bungsergebnisse von Schliemann, Dörpfeld und Biegen kritische Stimmen aus den
verschiedenen altertumswissenschaftlichen und prähistorischen Disziplinen diese
naive Deutung des archäologischen Befundes mit plausiblen Argumenten abgelehnt
hatten, behauptete der Tübinger Grabungsleiter, er habe eine anatolische Palast- und
Handelsmetropole mit bis zu 10.000 Einwohnern zutage gefördert, die Homers
Schilderung der glanzvollen Stadt des Priamos entspreche. Diese setzte er mit dem
in hethitischen Quellen erwähnten Wilusa gleich, um dessen Identität mit Ilios/Troia
freilich seit fast 100 Jahren ohne schlüssiges Ergebnis gestritten wird.
In Wirklichkeit ist sogar fraglich, ob der Hügel Hisarhk der ursprüngliche Ort
der Handlung des epischen Stoffes der vorhomerischen mündlichen Überlieferung
war. Die Namen Ilias und Troia sind auf dem griechischen Festland verwurzelt, ein
Ilios auf der Peloponnes oder Kreta schon im 14. Jh.v.Chr. bezeugt. Althistoriker
haben daher plausibel argumentiert, daß erst eingewanderte Griechen den Troia-
Mythos nach Kleinasien gebracht und an den Ruinen auf dem Hügel von Hisarhk
festgemacht hätten.
Die Tübinger Grabungen haben jedenfalls keinerlei Beweise für die Existenz
einer glanzvollen Stadt auf dem Hügel von Hisarhk erbracht. Zwar gibt es eine
 
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