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ANTRITTSREDEN
eines großartigen Deutschlehrers dazu. Kurzum: ich war ziemlich früh an das Reich
der Sprache und der Literatur verloren, und die relative äußere Erfahrungsarmut
einer Jugend in der Schwarzwaldprovinz war vermutlich gar kein so schlechtes
Ambiente für das Ein- und Abtauchen in die imaginären Welten der Literatur mit
ihren kleinen und großen Fluchten. — Studiert habe ich, seit dem Anfang der 70er
Jahre, in Tübingen (Germanistik, Philosophie, Geschichts- und Musikwissenschaft) —
zweimal wollte ich ausreißen, einmal nach Berlin zu Peter Szondi, dessen Tod diesen
Plan vereitelte, dann nach Konstanz, von wo damals die maßgeblichen Impulse in
den philologisch-hermeneutischen Wissenschaften auszugehen schienen —, aber eine
Einberufung zur Bundeswehr mitten im Studium durchkreuzte auch dieses Vorha-
ben. So blieb ich in Tübingen und genoß dort ein intensives und an vielfältigsten
Anregungen reiches Studium, in dem ich neugierig mitnahm, was immer sich bot.
In dem Philosophen Walter Schulz und dem Germanisten Klaus Ziegler durfte ich
zwei bedeutende Gelehrte und charismatische akademische Lehrer aus der Nähe
kennenlernen, begegnete aber auch jüngeren Wissenschaftlern, die für meinen wei-
teren Weg sehr wichtig werden sollten: so Klaus-Detlef Müller, meinem späteren
Kieler Doktorvater, dessen unbestechlich genaues und kritisch-differenziertes Argu-
mentieren mir einen Maßstab der auch in geisteswissenschaftlichen Fächern mögli-
chen analytischen Akribie vermittelte, und so Jochen Schmidt, unserem Heidelber-
ger Akademiemitglied und meinem Vorgänger auf dem Freiburger Lehrstuhl für
Neuere deutsche Literatur, in dessen überragenden Hölderlin-Seminaren ich zum
ersten Mal einen emphatischen Begriff von philologischer Erkenntnis4 erhielt, auch
dies eine prägende Erfahrung, hinter die nicht mehr zurückzugehen war.—Wenn ich
mein damaliges Tübinger Studium im ganzen bedenke und es mit der heutigen
Situation an den Hochschulen vergleiche, will mir scheinen, daß wir damals — unter
vielleicht auch bereits angespannten, aber doch noch überschaubaren und die per-
sönliche Entfaltung begünstigenden Zahlenverhältnissen und Betreuungsrelationen —
in einerWeise frei und neugierig, spekulativ unbeschwert und unbesorgt um diszi-
plinäre Grenzziehungen oder auf Beschleunigung zielende Studienregulationen
studieren konnten, die in unseren inzwischen völlig überlasteten und an diverse Kan-
daren (nicht zuletzt die eines viel strammeren ökonomischen Kalküls) gelegten Uni-
versitäten mit ihren zunehmend verschulten Studiengängen schlechthin utopisch
anmutet. — Defizite freilich gab es im Tübingen der 70er Jahre auch: So wurde Lite-
raturwissenschaft noch weitgehend in einem rein nationalphilologischen Rahmen
betrieben, und mein früher Wunsch nach der internationalen, vergleichenden Per-
spektive der Komparatistik blieb unerfüllt: Zwar wurde das Fach nominell angebo-
ten, es kam im Vorlesungsverzeichnis vor. Aber der zuständige Professor, ein bedeu-
tender Ordinarius der Romanischen Philologie und großer Mallarme-Experte, in
dessen Sprechstunde ich mich eines Tages begab, um mich initiieren zu lassen,
beschied mich resigniert, wenn auch nicht ohne eine gewisse Rührung, ein derarti-
ges Interesse sei ihm lange nicht mehr begegnet, er selbst habe alle komparatistischen
Ambitionen längst begraben und könne mir nur — ganz entre nous — einen privaten
Rat geben: „Lesen Sie, lesen Sie, lesen Sie!“. Sprach’s (mit sonorer schwäbischer Into-
nation) ... und ließ mich mit meinen Hoffnungen allein. Im Nachhinein denke ich:
ANTRITTSREDEN
eines großartigen Deutschlehrers dazu. Kurzum: ich war ziemlich früh an das Reich
der Sprache und der Literatur verloren, und die relative äußere Erfahrungsarmut
einer Jugend in der Schwarzwaldprovinz war vermutlich gar kein so schlechtes
Ambiente für das Ein- und Abtauchen in die imaginären Welten der Literatur mit
ihren kleinen und großen Fluchten. — Studiert habe ich, seit dem Anfang der 70er
Jahre, in Tübingen (Germanistik, Philosophie, Geschichts- und Musikwissenschaft) —
zweimal wollte ich ausreißen, einmal nach Berlin zu Peter Szondi, dessen Tod diesen
Plan vereitelte, dann nach Konstanz, von wo damals die maßgeblichen Impulse in
den philologisch-hermeneutischen Wissenschaften auszugehen schienen —, aber eine
Einberufung zur Bundeswehr mitten im Studium durchkreuzte auch dieses Vorha-
ben. So blieb ich in Tübingen und genoß dort ein intensives und an vielfältigsten
Anregungen reiches Studium, in dem ich neugierig mitnahm, was immer sich bot.
In dem Philosophen Walter Schulz und dem Germanisten Klaus Ziegler durfte ich
zwei bedeutende Gelehrte und charismatische akademische Lehrer aus der Nähe
kennenlernen, begegnete aber auch jüngeren Wissenschaftlern, die für meinen wei-
teren Weg sehr wichtig werden sollten: so Klaus-Detlef Müller, meinem späteren
Kieler Doktorvater, dessen unbestechlich genaues und kritisch-differenziertes Argu-
mentieren mir einen Maßstab der auch in geisteswissenschaftlichen Fächern mögli-
chen analytischen Akribie vermittelte, und so Jochen Schmidt, unserem Heidelber-
ger Akademiemitglied und meinem Vorgänger auf dem Freiburger Lehrstuhl für
Neuere deutsche Literatur, in dessen überragenden Hölderlin-Seminaren ich zum
ersten Mal einen emphatischen Begriff von philologischer Erkenntnis4 erhielt, auch
dies eine prägende Erfahrung, hinter die nicht mehr zurückzugehen war.—Wenn ich
mein damaliges Tübinger Studium im ganzen bedenke und es mit der heutigen
Situation an den Hochschulen vergleiche, will mir scheinen, daß wir damals — unter
vielleicht auch bereits angespannten, aber doch noch überschaubaren und die per-
sönliche Entfaltung begünstigenden Zahlenverhältnissen und Betreuungsrelationen —
in einerWeise frei und neugierig, spekulativ unbeschwert und unbesorgt um diszi-
plinäre Grenzziehungen oder auf Beschleunigung zielende Studienregulationen
studieren konnten, die in unseren inzwischen völlig überlasteten und an diverse Kan-
daren (nicht zuletzt die eines viel strammeren ökonomischen Kalküls) gelegten Uni-
versitäten mit ihren zunehmend verschulten Studiengängen schlechthin utopisch
anmutet. — Defizite freilich gab es im Tübingen der 70er Jahre auch: So wurde Lite-
raturwissenschaft noch weitgehend in einem rein nationalphilologischen Rahmen
betrieben, und mein früher Wunsch nach der internationalen, vergleichenden Per-
spektive der Komparatistik blieb unerfüllt: Zwar wurde das Fach nominell angebo-
ten, es kam im Vorlesungsverzeichnis vor. Aber der zuständige Professor, ein bedeu-
tender Ordinarius der Romanischen Philologie und großer Mallarme-Experte, in
dessen Sprechstunde ich mich eines Tages begab, um mich initiieren zu lassen,
beschied mich resigniert, wenn auch nicht ohne eine gewisse Rührung, ein derarti-
ges Interesse sei ihm lange nicht mehr begegnet, er selbst habe alle komparatistischen
Ambitionen längst begraben und könne mir nur — ganz entre nous — einen privaten
Rat geben: „Lesen Sie, lesen Sie, lesen Sie!“. Sprach’s (mit sonorer schwäbischer Into-
nation) ... und ließ mich mit meinen Hoffnungen allein. Im Nachhinein denke ich: