Jonas Grethlein
Das Interesse der Identitätspolitik an der gesellschaftspolitischen Relevanz
von Wissenschaft geht einher mit einem neuen Verständnis derselben. Das al-
ternative Wissenschaftsparadigma manifestiert sich zum Beispiel in der Kritik
am peer-review-Verfahren. So wird gefordert, die anonyme Begutachtung durch
Quoten für bisher benachteiligte Gruppen zu ersetzen - Rasse, Geschlecht und
andere Charakteristika, die das peer-review Verfahren bewusst verbirgt, werden
zum Schlüsselkriterium für Publikationen, die weniger als Form der Erkenntnis
denn als Beitrag zur epistemischen Gerechtigkeit gesehen werden. Dabei geht es
nicht nur um Rederechte, sondern auch die spezifischen Perspektiven, wenn et-
wa Weißen die Fähigkeit und das Recht abgesprochen werden, Biographien über
Schwarze zu verfassen. An die Stelle von intersubjektiv plausibler Erkenntnis tritt
der Ausdruck der eigenen Identität als Kern der Wissenschaft.
Von der Warte des traditionellen Wissenschaftsverständnisses aus lässt sich die
neue Position leicht als die Aufgabe zentraler Werte der europäischen Aufklärung,
als ein Rückfall in ein Standesdenken, ja, als ein neuer Tribalismus kritisieren. Tritt
man, statt zu polemisieren, einen Schritt zurück und versucht, das neue Paradigma
geistesgeschichtlich einzuordnen, so sticht zuerst einmal der Einfluss von Fou-
caults Diskursanalyse (und dem nietzscheanischen Willen zur Macht) ins Auge.
Foucaults Fokus auf die Machtoperationen, die sich hinter der Erzeugung und
Zirkulation von Wissen verbergen, gibt den Rahmen für die Identitätspolitik, die
Wissenschaft primär als Arena für Machtkämpfe betrachtet.
Geht man weiter zurück, so stößt man in der Verkoppelung von Wissenschaft
mit dem Ausdruck von Identität auf eine Affinität zur Romantik. Die Romantiker
verstanden Mimesis nicht mehr als die Wiedergabe von Wirklichkeit, sondern als
schöpferischen Ausdruck eines Ingeniums. Die historische Kluft ist gewaltig - und
doch bewegt sich die Identitätspolitik mit ihrem Bekenntnis zum Ausdruck auf
romantischem Terrain. Diese Nähe ist greifbar in Wildersons Afropessimism, das
seine Theorie der blackness in der Form eines Memoir entwickelt und mit seiner
lyrischen Sprache die Grenze zwischen Dichtung und Wissenschaft einebnet, ganz
so wie es die Romantiker forderten.
Die Identitätspolitik lässt sich auch als eine Zuspitzung der Hermeneutik
verstehen. Stellte Gadamer die subtilitas applicandi (Anwenden) als notwendigen
Teil des hermeneutischen Prozesses neben die subtilitas intellegendi (Verstehen) und
die subtilitas explicandi (Auslegen), so ist die identitätspolitische Lektüre dominiert
von der Frage, wie das Interpretandum in den Horizont der Interpreten passt. Die
Anwendung gewinnt ein solches Gewicht, dass ein hermeneutischer Kurzschluss
droht - wenn Texte vor allem mit den eigenen Wertmaßstäben abgeglichen wer-
den, wird aus der hermeneutischen Begegnung mit dem Fremden eine narzissti-
sche Selbstbespiegelung.
Kritiker, welche die Aufklärung gegen die Forderungen der Identitätspolitik
ins Feld führen, stehen in der Gefahr mit dem Gegenstand ihrer Kritik einen blin-
51
Das Interesse der Identitätspolitik an der gesellschaftspolitischen Relevanz
von Wissenschaft geht einher mit einem neuen Verständnis derselben. Das al-
ternative Wissenschaftsparadigma manifestiert sich zum Beispiel in der Kritik
am peer-review-Verfahren. So wird gefordert, die anonyme Begutachtung durch
Quoten für bisher benachteiligte Gruppen zu ersetzen - Rasse, Geschlecht und
andere Charakteristika, die das peer-review Verfahren bewusst verbirgt, werden
zum Schlüsselkriterium für Publikationen, die weniger als Form der Erkenntnis
denn als Beitrag zur epistemischen Gerechtigkeit gesehen werden. Dabei geht es
nicht nur um Rederechte, sondern auch die spezifischen Perspektiven, wenn et-
wa Weißen die Fähigkeit und das Recht abgesprochen werden, Biographien über
Schwarze zu verfassen. An die Stelle von intersubjektiv plausibler Erkenntnis tritt
der Ausdruck der eigenen Identität als Kern der Wissenschaft.
Von der Warte des traditionellen Wissenschaftsverständnisses aus lässt sich die
neue Position leicht als die Aufgabe zentraler Werte der europäischen Aufklärung,
als ein Rückfall in ein Standesdenken, ja, als ein neuer Tribalismus kritisieren. Tritt
man, statt zu polemisieren, einen Schritt zurück und versucht, das neue Paradigma
geistesgeschichtlich einzuordnen, so sticht zuerst einmal der Einfluss von Fou-
caults Diskursanalyse (und dem nietzscheanischen Willen zur Macht) ins Auge.
Foucaults Fokus auf die Machtoperationen, die sich hinter der Erzeugung und
Zirkulation von Wissen verbergen, gibt den Rahmen für die Identitätspolitik, die
Wissenschaft primär als Arena für Machtkämpfe betrachtet.
Geht man weiter zurück, so stößt man in der Verkoppelung von Wissenschaft
mit dem Ausdruck von Identität auf eine Affinität zur Romantik. Die Romantiker
verstanden Mimesis nicht mehr als die Wiedergabe von Wirklichkeit, sondern als
schöpferischen Ausdruck eines Ingeniums. Die historische Kluft ist gewaltig - und
doch bewegt sich die Identitätspolitik mit ihrem Bekenntnis zum Ausdruck auf
romantischem Terrain. Diese Nähe ist greifbar in Wildersons Afropessimism, das
seine Theorie der blackness in der Form eines Memoir entwickelt und mit seiner
lyrischen Sprache die Grenze zwischen Dichtung und Wissenschaft einebnet, ganz
so wie es die Romantiker forderten.
Die Identitätspolitik lässt sich auch als eine Zuspitzung der Hermeneutik
verstehen. Stellte Gadamer die subtilitas applicandi (Anwenden) als notwendigen
Teil des hermeneutischen Prozesses neben die subtilitas intellegendi (Verstehen) und
die subtilitas explicandi (Auslegen), so ist die identitätspolitische Lektüre dominiert
von der Frage, wie das Interpretandum in den Horizont der Interpreten passt. Die
Anwendung gewinnt ein solches Gewicht, dass ein hermeneutischer Kurzschluss
droht - wenn Texte vor allem mit den eigenen Wertmaßstäben abgeglichen wer-
den, wird aus der hermeneutischen Begegnung mit dem Fremden eine narzissti-
sche Selbstbespiegelung.
Kritiker, welche die Aufklärung gegen die Forderungen der Identitätspolitik
ins Feld führen, stehen in der Gefahr mit dem Gegenstand ihrer Kritik einen blin-
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