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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

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Vortrag von Christoph Markschies

radigmatische Bedeutung30, auch deswegen, weil sie die Populärethik neben der
paganen wie christlichen theoretischen Höhenkammliteratur der ethischen Dis-
kussion in die Rekonstruktion einbezieht.
Direkt nach seiner Emeritierung von der Heidelberger Professur 1989 veröf-
fentlichte Albrecht Dihle seine ebenso umfangreiche wie umfassende Literaturge-
schichte der Kaiserzeit „von Augustus bis Justinian" im Münchener Beck-Verlag.31
In dem schwungvoll erzählten Werk, das Appetit zur Lektüre der vorgestellten
Literatur machen will und den bunten Kosmos der kaiserzeitlichen Literatur in
den Blick nimmt, wird die „christliche Literatur" jeweils als letzter Abschnitt der
chronologisch geordneten Hauptabschnitte geführt, beginnend mit Briefliteratur
und Evangelien in der Flavischen Epoche. Man bemerkt die stupende Belesenheit
von Dihle in den knappen, oft nur eine Zeile langen Charakterisierungen der Wer-
ke, die gleichwohl äußerst treffend angelegt sind. Das Werk endet im Blick auf die
griechische christliche Literatur mit eben den Hymnen und Dichtungen, denen
der junge Wissenschaftler Dihle seine (unveröffentlichte) Habilitationsschrift ge-
widmet hat. In einem äußerst knappen Nachwort zeigt Dihle, wie „durch die Ver-
schmelzung mit den Lehren und Lebensformen des Christentums, das in ihrem
Rahmen und unter ihrem ständigen Einfluss zu einer Weltreligion wurde, ... die
griechisch-römische Kultur in den Jahrhunderten der Spätantike die Gestalt ge-
wonnen (sc. hat), in der sie auf die Nachwelt weiterwirkte"32. Der klassische Blick
auf die Umformung der Antike im Christentum ist also gleichsam umgedreht:
In der Metamorphose einer christlichen Gestalt wirkte die pagane Antike in die
folgenden Perioden weiter und wirkt bis heute. Allein in ihrer bei dieser Metamor-
phose angenommenen neuen Gestalt konnte die antike Kultur fortwirken; und al-
lein die so vermittelte dauernde Präsenz der antiken Kultur im Christentum und in
der von ihm geprägten Welt hat dann die Möglichkeit offengehalten, „sich immer
wieder auch ihren vorchristlichen Hervorbringungen zuzuwenden"33. Auch in der
Dankesrede anlässlich der Verleihung des Reuchlin-Preises der Stadt Pforzheim
im Jahre 1999 hat Dihle noch einmal sehr deutlich gemacht, dass er nicht der „vor
allem unter Theologen, bis heute" vertretenen Meinung zustimmen wolle, „es
bestehe eine Art von Unversöhnlichkeit zwischen dem christlichen Glauben und
der griechisch-römischen Welt- und Lebensauffassung und die angebliche ,Hel-

30 Hierauf hat Jean Pepin 1964 in seiner Rezension aufmerksam gemacht (ders., Rez. „Dihle,
Die Goldene Regel," Latomus 23, 1964, 636f: „Un modele de recherche, non seulement
pour les historiens de la morale et du droit, mais pour quiconque s'interesse ä la relation entre
Antike und Christentum").

31 Albrecht Dihle, Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit. Von Augustus bis
Justinian, München 1989.

32 Dihle, Die griechische und lateinische Literatur (wie Anm. 31), 619.

33 Ebd.

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