Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

Zitierlink: 
https://digi.hadw-bw.de/view/jbhadw2023/0134
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
III. Veranstaltungen

Paul Kirchhof lässt nie nach zu betonen, dass der gelingende freiheitliche Staat
mehr erfordert als abwehrrechtliche Freiheitsräume. Gewiss: Die negative Seite der
Freiheitsrechte verbrieft dem Einzelnen das Recht, positive Freiheitsräume nicht in
Anspruch zu nehmen; Rechte zur Teilnahme sind mithin Rechte zum Ausstieg.2
Und so belässt auch der Staat des Grundgesetzes dem Einzelnen die Freiheit, von al-
len gesellschaftlichen, familiären und ökonomischen Interessen abgewandt zu leben
- in den Worten des Jubilars: „wie Diogenes in der Tonne".3 Ohne dies erzwingen zu
können, baut der Staat des Grundgesetzes jedoch darauf, dass von den Freiheitsan-
geboten positiver Gebrauch gemacht wird, indem etwa das Wahlrecht ausgeübt, eine
Familie gegründet oder ein Erwerbsberuf ergriffen wird.
Mit seiner Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen geht Paul Kirchhof
aber konzeptionell darüber hinaus, wenn er die Notwendigkeit nicht nur eines
beliebigen, sondern auch eines gemeinwohlorientierten Gebrauchs positiver Frei-
heit sieht, einerseits wissend, dass grundrechtliche Freiheit formale Freiheit ist, die
gerade nicht an staatlichen Interessen ausgerichtet zu sein braucht4, zugleich aber
davon überzeugt, dass der Staat insoweit nicht zur bloßen hoffnungsvollen Passi-
vität verdammt ist.5 Der Umstand, dass die Rechts- und Verfassungsordnung auf
Eiwartungen aufbaut, deren Erfüllung sie selbst nicht erzwingen kann, darf sich
für ihn nicht in die „Entlastungsformel" verwandeln, „der Staat lebe von Voraus-
setzungen, die er nicht beeinflussen dürfe".6 Vielmehr hat der Staat - so der Jubilar
- den Auftrag, ohne Rechtszwang im Wege „freiheitsgestaltender Intervention" zu
einem positiven, auch gemeinwohldienlichen Freiheitsgebrauch anzuregen.7 Dies
lässt sich auf die optimistische Formel verdichten, dass der Staat seine Voraus-
setzungen zwar nicht garantieren, für einige seiner Voraussetzungen aber Sorge
tragen kann.8
Der Staat hat dabei ein Freiheitsangebot zu unterbreiten, das die vorgefunde-
nen vielfältigen Lebenswirklichkeiten der Menschen respektiert und das die Bürger
deshalb annehmen können, um in Selbstbestimmung die den „Staat bestimmende
Freiheitskultur" zu schaffen.9 Dabei darf der freiheitsverpflichtete Staat auch nicht

2 T. Reiß, Homogenität oder Demokratie als „einigendes Band"? Zur Diskussion der „Vorausset-
zungen des Rechtsstaats" bei Böckenförde und Habermas, MRM 2008, S. 205 <215>.

3 Kirchhof, Grundrechtsinhalte und Grundrechtsvoraussetzungen, in: Merten/Papier, HGRe,
Bd. I, 2004, § 21 Rn. 2; ders., Die kulturellen Voraussetzungen einer freiheitlichen Demokra-
tie, in: Jahrbuch der Juristischen Gesellschaft Bremen, 2002, S. 75 < 77>.

4 Vgl. BVerfGE 102, 370 <395>.

5 Harbarth, Der Auftrag des Staates zur Verwirklichung seiner Voraussetzungen als produk-
tives Dilemma, AöR 148 <2023>, S. 1 <4>.

6 Kirchhof, Grundrechtsinhalte und Grundrechtsvoraussetzungen, in: Merten/Papier, HGRe,
Bd. I, 2004, § 21 Rn. 6.

7 Kirchhof, Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, 2004, S. 54 ff. <83 ff>.

8 Harbarth, Der Auftrag des Staates zur Verwirklichung seiner Voraussetzungen als produk-
tives Dilemma, AöR 148 <2023>, S. 1 <4>.

9 Kirchhof, Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, 2004, S. 54 ff. <83 ff>.

134
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften