III. Veranstaltungen
chen hält das Richtschwert auf. Gleichwohl: das poetische Werk fordert keinen
Gehorsam. Poesie kann im Ungefähren, Mehrdeutigen verharren und aus ihm
geradezu ihr Flair gewinnen. Im Unterschied zum normativen Text ist die Spra-
che hier nicht das bloße Medium der Botschaft, sondern Medium und Botschaft
zugleich. „Worte", sagt Gottfried Benn, „schlagen mehr an als die Nachricht und
der Inhalt. Sie sind einerseits Geist, aber sie haben andererseits das Wesenhafte
und Zweideutige der Dinge der Natur."21 Hier waltet nicht allein hermeneutische
Vernunft, hier waltet auch hermeneutischer Eros.
V Dunkle Stellen und Widersprüche in den Texten.
Eine Lehre, die auf das römische Recht zurückgeht, hält allein die Interpretation
der „dunklen" Stellen eines Textes für erforderlich. Was klar sei, bedürfe keiner
Auslegung. „In claris non fit interpretatio."22 Aus dieser Tradition löst sich im 19.
Jahrhundert die Jurisprudenz. Nach Savigny geht die „edelste und fruchtbarste"
Auslegung darauf aus, gerade an den nicht dunklen Stellen den ganzen Reichtum
des Inhalts zu enthüllen.23 Diese Einsicht wird repräsentativ für die Geisteswissen-
schaften in Deutschland.
1. Die Einheit der Rechtsordnung
Bereits die Feststellung, dass eine Stelle hell sei, oder dunkel, ist Akt der Interpre-
tation. Aus sich selbst heraus legt sich kein Text aus, auch nicht ein so einfacher
Text wie die Grundrechtsnorm „Jeder hat das Recht auf Leben" (Art. 2 Abs. 2 S. 1
GG). Was Leben sei, meint einjeder zu wissen. Doch schon die Beschränkung auf
das physische Dasein des Menschen, der Ausschluss tierischer und pflanzlicher
Lebewesen, ist Interpretation. Immerhin gibt es auch ein geistiges, seelisches Le-
ben. Wann beginnt „Leben": mit der Verschmelzung der Keimzellen?, der Nidati-
on?, mit dem Beginn der Schmerzfähigkeit?, dem ersten Herzschlag?, dem Anfang
oder dem Abschluss der Geburt? oder gar erst mit der Fähigkeit zum selbstbe-
stimmten Handeln? Bedarf der nasciturus der Annahme durch die Mutter, um im
grundrechtlichen Sinne zu leben? Hat der extrakorporal gezeugte Embryo Leben,
solange er sich noch in vitro befindet? Können gentechnische Manipulationen
oder das Klonen überhaupt den grundrechtlichen Status der Person vermitteln?
Haben Chimären und Hybride daran teil? Wann endet das Leben - mit dem Hirn-
tod oder mit dem vollständigen Stillstand des Kl-eislaufs? Lässt die lapidare Fassung
21 Gottfried Benn, Probleme der Lyrik (1951), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, 1968, S. 1058
(1075).'
22 Clausdieter Schott, „Interpretatio cessit in claris", in: Jan Schröder (Hg.), Theorie der Inter-
pretation vom Humanismus bis zur Romantik, 2001, S. 155 ff
23 Friedrich Carl v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 207, 216
Fn. C,318 ff.
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chen hält das Richtschwert auf. Gleichwohl: das poetische Werk fordert keinen
Gehorsam. Poesie kann im Ungefähren, Mehrdeutigen verharren und aus ihm
geradezu ihr Flair gewinnen. Im Unterschied zum normativen Text ist die Spra-
che hier nicht das bloße Medium der Botschaft, sondern Medium und Botschaft
zugleich. „Worte", sagt Gottfried Benn, „schlagen mehr an als die Nachricht und
der Inhalt. Sie sind einerseits Geist, aber sie haben andererseits das Wesenhafte
und Zweideutige der Dinge der Natur."21 Hier waltet nicht allein hermeneutische
Vernunft, hier waltet auch hermeneutischer Eros.
V Dunkle Stellen und Widersprüche in den Texten.
Eine Lehre, die auf das römische Recht zurückgeht, hält allein die Interpretation
der „dunklen" Stellen eines Textes für erforderlich. Was klar sei, bedürfe keiner
Auslegung. „In claris non fit interpretatio."22 Aus dieser Tradition löst sich im 19.
Jahrhundert die Jurisprudenz. Nach Savigny geht die „edelste und fruchtbarste"
Auslegung darauf aus, gerade an den nicht dunklen Stellen den ganzen Reichtum
des Inhalts zu enthüllen.23 Diese Einsicht wird repräsentativ für die Geisteswissen-
schaften in Deutschland.
1. Die Einheit der Rechtsordnung
Bereits die Feststellung, dass eine Stelle hell sei, oder dunkel, ist Akt der Interpre-
tation. Aus sich selbst heraus legt sich kein Text aus, auch nicht ein so einfacher
Text wie die Grundrechtsnorm „Jeder hat das Recht auf Leben" (Art. 2 Abs. 2 S. 1
GG). Was Leben sei, meint einjeder zu wissen. Doch schon die Beschränkung auf
das physische Dasein des Menschen, der Ausschluss tierischer und pflanzlicher
Lebewesen, ist Interpretation. Immerhin gibt es auch ein geistiges, seelisches Le-
ben. Wann beginnt „Leben": mit der Verschmelzung der Keimzellen?, der Nidati-
on?, mit dem Beginn der Schmerzfähigkeit?, dem ersten Herzschlag?, dem Anfang
oder dem Abschluss der Geburt? oder gar erst mit der Fähigkeit zum selbstbe-
stimmten Handeln? Bedarf der nasciturus der Annahme durch die Mutter, um im
grundrechtlichen Sinne zu leben? Hat der extrakorporal gezeugte Embryo Leben,
solange er sich noch in vitro befindet? Können gentechnische Manipulationen
oder das Klonen überhaupt den grundrechtlichen Status der Person vermitteln?
Haben Chimären und Hybride daran teil? Wann endet das Leben - mit dem Hirn-
tod oder mit dem vollständigen Stillstand des Kl-eislaufs? Lässt die lapidare Fassung
21 Gottfried Benn, Probleme der Lyrik (1951), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, 1968, S. 1058
(1075).'
22 Clausdieter Schott, „Interpretatio cessit in claris", in: Jan Schröder (Hg.), Theorie der Inter-
pretation vom Humanismus bis zur Romantik, 2001, S. 155 ff
23 Friedrich Carl v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 207, 216
Fn. C,318 ff.
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