III. Veranstaltungen
Vergänglichkeit: Festhalten dort, wo man nicht festhalten kann: „dort muß man
eben etwas statt dessen tun, nämlich interpretieren".35
Die Fremdheit des Textes ergibt sich häufig (doch nicht immer) aus der zeit-
lichen Entfernung der Entstehung des Textes und seiner Rezeption. Die Verste-
henshorizonte rücken auseinander. Der Text verharrt auf dem Platz, auf den er
einmal gestellt wurde, indes die Rezipienten auf einem rollenden Gefährt stehen,
das sie immer weiter davonträgt. Die neutestamentliche Botschaft wurde von den
frühen Christen, die noch zu Lebzeiten die Wiederkehr Christi eiwarteten, anders
aufgenommen als von den Christen späterer Jahrhunderte unter den Bedingungen
der Parusieverzögerung, vollends von den geschichts- und religionsvergessenen
Agnostikern von heute.
Mit der zeitlichen Distanz wachsen die Verständnisschwierigkeiten. Den
Nachgeborenen werden Sprache und Stil fremd, die kontextualen Zusammen-
hänge unbegreiflich und die Implikationen des Selbstverständlichen dunkel. Der
Leser eines antiken Textes, der sich Kenntnisse über ungebräuchliche Wörter und
Wendungen, über historische Fakten und Sitten verschafft, leistet noch keine
hermeneutische Arbeit. Vielmehr besorgt er sich nur Vorkenntnisse, die
nötig sind, um den Text zu verstehen. Ein Gesellschaftsroman, der in der Lebens-
zeit des Autors spielt wie Flauberts „Madame Bovaiy. Moeurs de Province" (1857),
zeigt dem heutigen Leser eine fremde Welt und unterscheidet sich darin nicht vom
vornherein als historisch konzipierten Roman Flauberts, dem im alten Karthago
spielenden „Salammbö" (1862). Der durch Zeitablauf historisch gewordene Ro-
man kann dem späteren Leser größere Verständnisschwierigkeiten bereiten als der
genuin historische Roman, weil dieser die zeitentrückten Lebensumstände, deren
Kenntnis er bei seinen Lesern nicht voraussetzen kann, eigens beschreiben muss,
während jener davon ausgehen kann, dass die zeitgenössischen Lebensumstände
vertraut sind. Doch das als historisch geplante wie das historisch gewordene ferne
Geschehen, beide können eigentümlich poetischen Charme gewinnen, weil sie
die Penetranz und Direktheit des Gegenwärtigen verloren haben und der heutige
Leser das Geschehen im fremden Gewand als poetisches Versteckspiel des zeitlos
Menschlichen genießen kann.
Das Römische Recht verdankt seinen Exegeten, dass es von der Antike bis
zur Ära der neuzeitlichen Kodifikationen offen oder subkutan weiter gelten konn-
te. Goethe vergleicht es mit einer untertauchenden Ente, die sich „zwar von Zeit
zu Zeit verbirgt, aber nie ganz verloren geht und immer einmal wieder lebendig
hervortritt".36 Die alten Rechtsfiguren verschwinden und kehren zurück. Die Exe-
35 Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die Hermeneutik die Antwort ist (1981), in: ders.,
Abschied vom Prinzipiellen, 1982, S. 117 (126).
36 Goethe im Gespräch mit Eckermann am 6. April 1829, in: Johann Peter Eckermann, Gesprä-
che mit Goethe (Ausgabe H. H. Houben, 1909), S. 273.
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Vergänglichkeit: Festhalten dort, wo man nicht festhalten kann: „dort muß man
eben etwas statt dessen tun, nämlich interpretieren".35
Die Fremdheit des Textes ergibt sich häufig (doch nicht immer) aus der zeit-
lichen Entfernung der Entstehung des Textes und seiner Rezeption. Die Verste-
henshorizonte rücken auseinander. Der Text verharrt auf dem Platz, auf den er
einmal gestellt wurde, indes die Rezipienten auf einem rollenden Gefährt stehen,
das sie immer weiter davonträgt. Die neutestamentliche Botschaft wurde von den
frühen Christen, die noch zu Lebzeiten die Wiederkehr Christi eiwarteten, anders
aufgenommen als von den Christen späterer Jahrhunderte unter den Bedingungen
der Parusieverzögerung, vollends von den geschichts- und religionsvergessenen
Agnostikern von heute.
Mit der zeitlichen Distanz wachsen die Verständnisschwierigkeiten. Den
Nachgeborenen werden Sprache und Stil fremd, die kontextualen Zusammen-
hänge unbegreiflich und die Implikationen des Selbstverständlichen dunkel. Der
Leser eines antiken Textes, der sich Kenntnisse über ungebräuchliche Wörter und
Wendungen, über historische Fakten und Sitten verschafft, leistet noch keine
hermeneutische Arbeit. Vielmehr besorgt er sich nur Vorkenntnisse, die
nötig sind, um den Text zu verstehen. Ein Gesellschaftsroman, der in der Lebens-
zeit des Autors spielt wie Flauberts „Madame Bovaiy. Moeurs de Province" (1857),
zeigt dem heutigen Leser eine fremde Welt und unterscheidet sich darin nicht vom
vornherein als historisch konzipierten Roman Flauberts, dem im alten Karthago
spielenden „Salammbö" (1862). Der durch Zeitablauf historisch gewordene Ro-
man kann dem späteren Leser größere Verständnisschwierigkeiten bereiten als der
genuin historische Roman, weil dieser die zeitentrückten Lebensumstände, deren
Kenntnis er bei seinen Lesern nicht voraussetzen kann, eigens beschreiben muss,
während jener davon ausgehen kann, dass die zeitgenössischen Lebensumstände
vertraut sind. Doch das als historisch geplante wie das historisch gewordene ferne
Geschehen, beide können eigentümlich poetischen Charme gewinnen, weil sie
die Penetranz und Direktheit des Gegenwärtigen verloren haben und der heutige
Leser das Geschehen im fremden Gewand als poetisches Versteckspiel des zeitlos
Menschlichen genießen kann.
Das Römische Recht verdankt seinen Exegeten, dass es von der Antike bis
zur Ära der neuzeitlichen Kodifikationen offen oder subkutan weiter gelten konn-
te. Goethe vergleicht es mit einer untertauchenden Ente, die sich „zwar von Zeit
zu Zeit verbirgt, aber nie ganz verloren geht und immer einmal wieder lebendig
hervortritt".36 Die alten Rechtsfiguren verschwinden und kehren zurück. Die Exe-
35 Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die Hermeneutik die Antwort ist (1981), in: ders.,
Abschied vom Prinzipiellen, 1982, S. 117 (126).
36 Goethe im Gespräch mit Eckermann am 6. April 1829, in: Johann Peter Eckermann, Gesprä-
che mit Goethe (Ausgabe H. H. Houben, 1909), S. 273.
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