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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

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Festvortrag von Josef Isensee

Ziel der Interpretation zur Zwischenstufe. Der Interpret muss sich zunächst Klar-
heit über die ursprüngliche Intention verschaffen, ehe er sie für die Gegenwart
fortschreiben kann. Anderenfalls verbliebe von ihr weiter nichts übrig als ein anti-
quarisches Passepartout für ein neues Bild.
Die Theologie bedient sich der Historisierung, um derzeit anstößige Passa-
gen der biblischen Texte (wie Statusungleichheit der Frau, Polygamie, verwerfliche
Homosexualität) pietätvoll zu entsorgen. Andererseits glaubten Theologen des 19.
Jahrhunderts, sie könnten das Bild des historischen Jesus, wie es eine vorausset-
zungslose, historische Forschung freilegt, unmittelbar in die eigene Zeit überneh-
men. Dazu Albert Schweitzer: Die Theologie zog aus, „den historischen Jesus zu
finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in
unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an
den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und
Bewegung in die Gestalt kam, und sie den historischen Jesus auf sich zukommen
sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte
in die seinige zurück".39
Prinzipiell sieht die Kirche jedoch ihre Aufgabe darin, die biblische Botschaft
zu aktualisieren und das Heilsereignis einer historischen Stunde den jüngeren
Generationen ihrem jeweiligen Rezeptionsvermögen gemäß zu vermitteln. Die
aktuelle kirchliche Interpretation legitimiert sich aus der Übereinstimmung mit
dem ursprünglichen Sinn der Schrift und der Kohärenz der Interpretation. Hier
zeigt sich eine Ähnlichkeit mit dem original intent in der Auslegung tradierter
Rechtstexte.
3. Ablösung oder Kompostierung alter Texte
Der moderne Gesetzesstaat sieht Verfahren vor, um geltende Normen aufzuheben
und neue in Geltung zu setzen. Die Positivität des Rechts ermöglicht systemische
Klarheit in der Geltungsfrage. Diese Prämisse erfasst aber nicht kirchenamtliche
Lehren. Die katholische Kirche widerruft nicht, was sie einmal mit Wahrheitsan-
spruch verkündet hat, um an dessen Stelle eine andere Wahrheit zu setzen. Viel-
mehr reichert sie den geschichtlichen Bestand verkündigter Wahrheiten an um
eine weitere verkündigte Wahrheit. Diese überlagert die bisherigen und wird von
ihnen durchdrungen: ein Kompostierungseffekt.40 Wenn die Päpste des 20. Jahr-
hunderts sich zur Religions- und Gewissensfreiheit bekennen, so sehen sie dar-
in keinen Widerspruch zu den Lehren der Päpste des 19. Jahrhunderts, die diese

39 Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 1913, S. 631 f. Zum Riss zwischen
dem „historischen Jesus" der historisch-kritischen Forschung und dem Christus des Glau-
bens Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.), Jesus von Nazareth, 1. Teil 2007, S. 10 ff

40 Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechts-
geschichte, Kan. Abt. LXXIII, 1987, S. 296 ff.

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