III. Veranstaltungen
teratur längst Ereignis geworden, und zwar in Rabelais' „Gargantua"-Roman: Der
Richter Bridoye widmet sich gründlichst den Prozessakten, betreibt das Verfahren
mit riesigem Aufwand an romanistischer und kanonistischer Rechtsgelehrtheit,
um am Ende die Entscheidung doch dem Würfel zu überlassen.51
Heute haben erkenntniskritische Wahrheitsbedenklichkeiten Konjunktur.
Doch sie gedeihen nur in der Theorie. Theorie, des Zeitdrucks enthoben, mag
sich in uneinlösbare Forderungen versteigen, in Hyperkritizismus schwelgen und
die Sinnfähigkeit von Texten wie die Verstehensfähigkeit des Menschen hinter-
fragen. Doch die richterliche Praxis kann sich den prinzipiellen Wahrheitszweifel
nicht leisten, weil sie mit der Arbeit an der richtigen Antwort auf die Rechts- und
Tatfragen ausgelastet ist. Sie braucht sich auch der unbegrenzten Erkenntniskritik
schon deshalb nicht hinzugeben, weil sie tagtäglich erfährt, dass das Rechtssystem
grosso modo funktionstüchtig ist und für das Maß an Verlässlichkeit einsteht, de-
ren das allgemeine Rechtsvertrauen bedarf. Angesichts einer solchen Praxis fällt
dem Skeptiker im Streit um die Erkenntnismöglichkeit die Beweislast zu. Goethe
rührt an das Thema in einem erdichteten Gespräch zwischen Sohn und Vater:
„Wie hast du's denn so weit gebracht?
Sie sagen, du hättest es gut vollbracht!" -
Mein Kind! ich hab' es klug gemacht.
Ich habe nie über das Denken gedacht.52
Urteilskraft (in der Juristensprache: Judiz) wird nicht nur gefordert, um das
Ergebnis des hermeneutischen Prozesses zu erreichen, sondern auch die Stelle zu er-
kennen, wo der Prozess sinnvolleiweise überhaupt erst einsetzt, weil seine Aufgabe
nicht darin besteht, die letzten Gründe menschlichen Denkens aufzuspüren. Immer
wenn ich an die Antwort von Goethes Vaterfigur denke, sehe ich das Bild Paul Kirch-
hofs vor mir, der das intuitive Gespür dafür hat, wo für die Praxis des Rechts und wo
für die korrespondierende Wissenschaft das sinnhafte Fragen beginnt.
IX. „... in stetiger akademischer Unruhe"
Eigentlich führen heute alle Gedanken zu Theorie und Praxis der Hermeneutik
hin zu längst vorausgedachten Gedanken Paul Kirchhofs. So auch der Gedanke
der gemeinsamen Aufgabe der verschiedenen Wortwissenschaften, die zu einer
Zusammenarbeit der Disziplinen führen könnte, wie sie ihm für die Gesamtheit
der Wissenschaften überhaupt vorschwebt. In dem Festvortrag, den er aus Anlass
der 600. Wiederkehr des Gründungstages der Universität Heidelberg hielt, wies er
51 Francois Rabelais, Gargantua et Pantagruel, Livre III, Chap. 39-43, Paris 1546.
52 Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenien, in: ders., Werke, Ausgabe letzter Hand, Bd. 47,
1833, S. 253.'
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teratur längst Ereignis geworden, und zwar in Rabelais' „Gargantua"-Roman: Der
Richter Bridoye widmet sich gründlichst den Prozessakten, betreibt das Verfahren
mit riesigem Aufwand an romanistischer und kanonistischer Rechtsgelehrtheit,
um am Ende die Entscheidung doch dem Würfel zu überlassen.51
Heute haben erkenntniskritische Wahrheitsbedenklichkeiten Konjunktur.
Doch sie gedeihen nur in der Theorie. Theorie, des Zeitdrucks enthoben, mag
sich in uneinlösbare Forderungen versteigen, in Hyperkritizismus schwelgen und
die Sinnfähigkeit von Texten wie die Verstehensfähigkeit des Menschen hinter-
fragen. Doch die richterliche Praxis kann sich den prinzipiellen Wahrheitszweifel
nicht leisten, weil sie mit der Arbeit an der richtigen Antwort auf die Rechts- und
Tatfragen ausgelastet ist. Sie braucht sich auch der unbegrenzten Erkenntniskritik
schon deshalb nicht hinzugeben, weil sie tagtäglich erfährt, dass das Rechtssystem
grosso modo funktionstüchtig ist und für das Maß an Verlässlichkeit einsteht, de-
ren das allgemeine Rechtsvertrauen bedarf. Angesichts einer solchen Praxis fällt
dem Skeptiker im Streit um die Erkenntnismöglichkeit die Beweislast zu. Goethe
rührt an das Thema in einem erdichteten Gespräch zwischen Sohn und Vater:
„Wie hast du's denn so weit gebracht?
Sie sagen, du hättest es gut vollbracht!" -
Mein Kind! ich hab' es klug gemacht.
Ich habe nie über das Denken gedacht.52
Urteilskraft (in der Juristensprache: Judiz) wird nicht nur gefordert, um das
Ergebnis des hermeneutischen Prozesses zu erreichen, sondern auch die Stelle zu er-
kennen, wo der Prozess sinnvolleiweise überhaupt erst einsetzt, weil seine Aufgabe
nicht darin besteht, die letzten Gründe menschlichen Denkens aufzuspüren. Immer
wenn ich an die Antwort von Goethes Vaterfigur denke, sehe ich das Bild Paul Kirch-
hofs vor mir, der das intuitive Gespür dafür hat, wo für die Praxis des Rechts und wo
für die korrespondierende Wissenschaft das sinnhafte Fragen beginnt.
IX. „... in stetiger akademischer Unruhe"
Eigentlich führen heute alle Gedanken zu Theorie und Praxis der Hermeneutik
hin zu längst vorausgedachten Gedanken Paul Kirchhofs. So auch der Gedanke
der gemeinsamen Aufgabe der verschiedenen Wortwissenschaften, die zu einer
Zusammenarbeit der Disziplinen führen könnte, wie sie ihm für die Gesamtheit
der Wissenschaften überhaupt vorschwebt. In dem Festvortrag, den er aus Anlass
der 600. Wiederkehr des Gründungstages der Universität Heidelberg hielt, wies er
51 Francois Rabelais, Gargantua et Pantagruel, Livre III, Chap. 39-43, Paris 1546.
52 Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenien, in: ders., Werke, Ausgabe letzter Hand, Bd. 47,
1833, S. 253.'
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