Wie Götter heiraten: Tempelrituale im südindischen Hinduismus
Die Hochzeitslegende ist so zentral für die Stadt Kanchipuram, dass sie wäh-
rend des Mahotsava-Festes zwölf Tage lang von der ganzen Stadt gefeiert wird.
Wie alle großen südindischen Tempelfeste ist auch dieses dadurch gekennzeichnet,
dass die zentrale Gottheit Ekämbaresvara das Innere ihres Tempels verlässt und
sich - in Umkehrung der alltäglichen Verhältnisse - zu den Gläubigen begibt. Die-
se Prozessionen stehen stets unter einem bestimmten Motto, das entweder einen
Bezug zur pan-hinduistischen Mythologie oder zur spezifischen Tempelmytholo-
gie hat. Am neunten Tag des Festes wird beispielsweise der Mangobaum aus der
Tempellegende mit dem Brautpaar darunter durch die Straßen der Stadt gezogen.
Die eigentlichen Hochzeitsrituale werden am folgenden Tag durch einen Streit
der zukünftigen Eheleute eingeleitet. Verärgert eilt die Braut ungeschmückt aus
dem Tempel in den nahegelegenen Stadtteil Okkapirantakulam, wo sie von ihren
Freundinnen (andere Göttinen der Stadt) beruhigt und auf die Hochzeit vorberei-
tet wird. Am Abend begibt sie sich zusammen mit den beiden Freundinnen zurück
zum Tempel. Diese Szene wird von den Festbesuchern als bedeutungsvoll und
beispielhaft für das tägliche Leben gedeutet: Man kann sich streiten, wichtig ist
jedoch, dass man sich auch wieder versöhnt. Gerade hier wird sehr deutlich, dass
die Menschen in den Göttern Vorbilder für ihr eigenes Leben sehen.
Sobald die Göttin wieder im Tempel ist, wird der Faden der Erzählung aus
den Texten wieder in der Performanz aufgegriffen: Kämäksi übt am Ufer des Flus-
ses Kampa Askese, um ihren Ehemann wieder für sich zu gewinnen (Bild 3). Der
Ort des Geschehens ist Kampäkulam, eines der beiden Wasserreservoirs des Tem-
pels. Auf einem Bein stehend verbringt Kämäksi dort die Nacht, während die Fest-
besucher mit ihr warten. Am Ende der Nacht formt sie - bzw. ein Priester für sie
- dann ein Linga aus Sand, das verehrt und im Anschluss im Kampäkulam versenkt
wird. Das ist der Augenblick, in welchem Ekämbaresvara, auf dem Bullen reitend,
zu Kämäksi kommt und sie zur Frau nimmt. Zu einem von einem Astrologen be-
stimmten Zeitpunkt legt Ekämbaresvara seiner Braut den Mangalasütra, die Hoch-
zeitskette um (Bild 4). Diese Hochzeitskette wird im menschlichen Leben von
der Frauengeber-Partei gestellt - so auch bei der Hochzeit der Götter: Eine lokale
Familie gilt als Familie der Braut und das männliche Familienoberhaupt übergibt
die Braut dem göttlichen Ehemann während des Hochzeitsrituals. Auch hier se-
hen wir also eine deutliche Parallelität der Götter- und Menschenwelten, die nun
noch besonders explizit wird: denn in dem Augenblick, wenn Ekämbaresvara der
Kämäksi den Mangalasütra umhängt, heiraten im Tempel viele menschliche Paare
(Bild 5). Diese Gleichzeitigkeit ist glückverheißend für die frischvermählten Paare
und setzt sie den Göttern gleich. Doch anders als bei den menschlichen Paaren
muss die Hochzeit von Ekämbaresvara und Kämäksi alljährlich wiederholt und
damit sowohl bestätigt als auch erneuert werden. Denn das von den Göttern ge-
lenkte Universum bleibt nicht, wie es ist - vor allem die Priester müssen sich aktiv
175
Die Hochzeitslegende ist so zentral für die Stadt Kanchipuram, dass sie wäh-
rend des Mahotsava-Festes zwölf Tage lang von der ganzen Stadt gefeiert wird.
Wie alle großen südindischen Tempelfeste ist auch dieses dadurch gekennzeichnet,
dass die zentrale Gottheit Ekämbaresvara das Innere ihres Tempels verlässt und
sich - in Umkehrung der alltäglichen Verhältnisse - zu den Gläubigen begibt. Die-
se Prozessionen stehen stets unter einem bestimmten Motto, das entweder einen
Bezug zur pan-hinduistischen Mythologie oder zur spezifischen Tempelmytholo-
gie hat. Am neunten Tag des Festes wird beispielsweise der Mangobaum aus der
Tempellegende mit dem Brautpaar darunter durch die Straßen der Stadt gezogen.
Die eigentlichen Hochzeitsrituale werden am folgenden Tag durch einen Streit
der zukünftigen Eheleute eingeleitet. Verärgert eilt die Braut ungeschmückt aus
dem Tempel in den nahegelegenen Stadtteil Okkapirantakulam, wo sie von ihren
Freundinnen (andere Göttinen der Stadt) beruhigt und auf die Hochzeit vorberei-
tet wird. Am Abend begibt sie sich zusammen mit den beiden Freundinnen zurück
zum Tempel. Diese Szene wird von den Festbesuchern als bedeutungsvoll und
beispielhaft für das tägliche Leben gedeutet: Man kann sich streiten, wichtig ist
jedoch, dass man sich auch wieder versöhnt. Gerade hier wird sehr deutlich, dass
die Menschen in den Göttern Vorbilder für ihr eigenes Leben sehen.
Sobald die Göttin wieder im Tempel ist, wird der Faden der Erzählung aus
den Texten wieder in der Performanz aufgegriffen: Kämäksi übt am Ufer des Flus-
ses Kampa Askese, um ihren Ehemann wieder für sich zu gewinnen (Bild 3). Der
Ort des Geschehens ist Kampäkulam, eines der beiden Wasserreservoirs des Tem-
pels. Auf einem Bein stehend verbringt Kämäksi dort die Nacht, während die Fest-
besucher mit ihr warten. Am Ende der Nacht formt sie - bzw. ein Priester für sie
- dann ein Linga aus Sand, das verehrt und im Anschluss im Kampäkulam versenkt
wird. Das ist der Augenblick, in welchem Ekämbaresvara, auf dem Bullen reitend,
zu Kämäksi kommt und sie zur Frau nimmt. Zu einem von einem Astrologen be-
stimmten Zeitpunkt legt Ekämbaresvara seiner Braut den Mangalasütra, die Hoch-
zeitskette um (Bild 4). Diese Hochzeitskette wird im menschlichen Leben von
der Frauengeber-Partei gestellt - so auch bei der Hochzeit der Götter: Eine lokale
Familie gilt als Familie der Braut und das männliche Familienoberhaupt übergibt
die Braut dem göttlichen Ehemann während des Hochzeitsrituals. Auch hier se-
hen wir also eine deutliche Parallelität der Götter- und Menschenwelten, die nun
noch besonders explizit wird: denn in dem Augenblick, wenn Ekämbaresvara der
Kämäksi den Mangalasütra umhängt, heiraten im Tempel viele menschliche Paare
(Bild 5). Diese Gleichzeitigkeit ist glückverheißend für die frischvermählten Paare
und setzt sie den Göttern gleich. Doch anders als bei den menschlichen Paaren
muss die Hochzeit von Ekämbaresvara und Kämäksi alljährlich wiederholt und
damit sowohl bestätigt als auch erneuert werden. Denn das von den Göttern ge-
lenkte Universum bleibt nicht, wie es ist - vor allem die Priester müssen sich aktiv
175