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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

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Nachruf auf Burghart Wachinger

Eindrücklichkeit, wie sie der nach dem Krieg wieder einsetzende Gymnasialunter-
richt kaum einholen konnte; durch den Großvater lernte er die Praxis des Bücher-
machens kennen.2 Zuhören, lesen und verstehen, das Buch als Buch respektieren:
Dieser Trias blieb Burghart Wachinger sein Leben lang verpflichtet. Sie war der
Nährboden, der mit dazu geführt haben mag, dass er lateinische, griechische und
deutsche Philologie in München und Berlin studierte.
Prägend für seine wissenschaftliche Orientierung wurde die Begegnung mit
Hugo Kuhn, bei dem er 1958 mit einer Arbeit über das Nibelungenlied promo-
viert wurde. Im Gespräch mit ihm und dessen Mitarbeiterkreis kristallisierten sich
Themen zu Gattungs- und Überlieferungsfragen, zu Textkritik und Autorschaft,
zur Formen- und Ideengeschichte heraus: Themen, die ihn auch später beschäfti-
gen sollten. Aufenthalte in den USA sowie die Diskussionen der 68er Jahre öffne-
ten neue Perspektiven: Fragen etwa zu einem eiweiterten Literaturbegriffjenseits
des Höhenkamms oder zur gesellschaftlichen Funktion von Literatur, Fragen, die
Burghart Wachinger gerne und produktiv aufgriff. Auch sie haben ihn auf seinem
gesamten Weg begleitet. Nach einer Forschungsassistenz und einem Stipendium
der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde er 1969 auf den Lehrstuhl für Äl-
tere deutsche Philologie an die Universität Tübingen berufen und entfaltete von
hier aus sein reiches CEuvre als Forscher.
In seiner Habilitationsschrift hatte sich Burghart Wachinger den ,Sängerkrie-
gen' in der mittelhochdeutschen Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts zugewandt
(erseh. 1973). Auf seinem weiteren Weg als Forscher und Lehrender wird ihn die
Faszination an der Lyrik nicht mehr loslassen, verwiesen sei paradigmatisch auf
seine fast lebenslange Beschäftigung mit Oswald von Wolkenstein, die 2015 in eine
grundlegend neubearbeitete, vielbeachtete Neuauflage der Lieder Oswalds mün-
dete. Um die subtile Variationskunst mittelhochdeutscher Lyrik zu erschließen,
bedurfte es all jener Qualitäten, die Burghart Wachinger in besonderer Weise mit-
brachte: den Blick für die Nuance, handwerkliche Präzision, Sinn für (nicht nur)
sprachliche Musikalität. Von diesen Grundtugenden des Philologen aus weitete
er seinen fachdisziplinären Zugriff konstant in fast alle Gattungen hinein, oft in
wegweisenden Studien für das Fach, etwa in Bezug auf die Interdependenz von
weltlicher und geistlicher Lied- und Erzähldichtung, in Hinblick auf das Verhältnis
von deutschen und lateinischen Klein- und Kleinstformen der Literatur oder im
Bereich der spätmittelalterlichen Lied- und Sangspruchdichtung.
Neben seinem umfassenden CEuvre an Einzelstudien stehen seine Großpro-
jekte, Mammutunternehmen, deren Bedeutung und Wirkungsradius kaum über-
schätzt werden können: Ab 1979 wird er aufgrund seiner Expertise für Edition,
Textkritik und Textpräsentation mit der Betreuung der im Fach hochangesehenen
Ausgaben der „Altdeutschen Textbibliothek" betraut, eine Aufgabe, die er über

2 Vgl. ebd., S. 102f., Zitat S. 102.

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