Deuten, Ordnen und Aneignen | 215
der Rezipientinnen. Wie die Anordnung des Hortus deliciarum als historisches
Gesamtbild der Welt von der Schöpfung bis zur Endzeit zeigt, suchte man das Heil
nicht (oder nicht allein) in wissenschaftlicher Erörterung, sondern im Verständnis
umfassender Ordnungen.
Der Versuch, Wissensbestände zu vervollständigen, zu systematisieren, in ihnen
nach Deutungsmustern zu forschen und diese verständlich darzubieten, ist jedoch
nicht nur Herrads Hortus deliciarum eigen. Er findet sich in vielen Wissenskompendien,
die in Klöstern, in Schulen oder an Höfen erstellt wurden. Ein eher seltenes
Merkmal ist dagegen der im Hortus als »enzyklopädisch« zu bezeichnende
Anspruch auf umfassende Darstellung eines geordneten Wissensbestandes. ¹⁷ Er
muss selbst als hochinteressante Neuerung gewertet werden: Wie Christel Meier
herausgestellt hat, sind Veränderungen der stark mit Ordnungsvorstellungen aufgeladenen
Gattung der Enzyklopädie immer als Indikatoren unterliegenden sozialen
Wandels zu werten. ¹⁸ Doch auch solche kompendiösen Wissenssammlungen, die
den Kriterien enzyklopädischer Vollständigkeit und Anordnung nicht gerecht werden,
lassen sich in einen ähnlichen Kontext einordnen. Die mit dem Hochmittelalter
neu einsetzende Produktion von Wissenskompendien gibt Einblicke in die Entstehung
unterschiedlicher Nutzungskontexte gelehrten Wissens. Sie soll im Folgenden
daher an wenigen, exemplarischen Texten verfolgt werden, um ein flexibleres Bild
hochmittelalterlicher Innovationstendenzen zu zeichnen. Dazu sollen an verschiedenen
wissensorganierenden oder enzyklopädischen Texten, die religiöses Wissen
enthalten – anhand von Einzelfällen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit – drei
spezifische innovative Dynamiken und ihre Kontexte diskutiert werden. Sie werden
hier aufeinanderfolgend geschildert, treten zwischen c. 1050 und 1250 aber auch
gleichzeitig auf. Es soll zunächst nach der Produktion von Wissen für neue gesell-
17 Zur Begriffsbestimmung des »Enzyklopädischen« im Mittelalter vgl. Christel Meier, Grundzüge der
mittelalterlichen Enzyklopädik. Zu Inhalten, Formen und Funktionen einer problematischen Gattung,
in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposium Wolfenbüttel
1981, hg. von Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5),
Stuttgart 1981, S. 467–500, hier S. 470. Zur Gattung Dies., Enzyklopädischer Ordo und sozialer Gebrauchsraum.
Modelle der Funktionalität einer universalen Literaturform, in: Die Enzyklopädie im Wandel
vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit, hg. von ders. (Münstersche Mittelalter-Schriften 78),
München 2002, S. 511–532 (sowie die weiteren Beiträge ebd., bes. Christel Meier, Einführung, S. 11–24);
Dies., Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und enzyklopädischem Ordo in Mittelalter und
Früher Neuzeit, in: Frühmittelalterliche Studien 36, 2002, S. 171–192; dies., Wissenskodifikation und
Informationsbedarf in der vormodernen Gesellschaft. Neue Forschungsansätze zu einer pragmatischen
Gattungsgeschichte der mittelalterlichen Enzyklopädie, in: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher
Schriftkultur. Akten des Internationalen Kolloquiums 26.–29. Mai 1999, hg. von ders. (Münstersche
Mittelalter-Schriften 79), München 2002, S. 191–210; Michael Baldzuhn, Schulunterricht und Verschriftlichungsprozeß.
Forschungsansätze und Forschungsergebnisse, in: ebd., S. 161–175.
18 Meier, Einführung (wie Anm. 17), S. 18.
der Rezipientinnen. Wie die Anordnung des Hortus deliciarum als historisches
Gesamtbild der Welt von der Schöpfung bis zur Endzeit zeigt, suchte man das Heil
nicht (oder nicht allein) in wissenschaftlicher Erörterung, sondern im Verständnis
umfassender Ordnungen.
Der Versuch, Wissensbestände zu vervollständigen, zu systematisieren, in ihnen
nach Deutungsmustern zu forschen und diese verständlich darzubieten, ist jedoch
nicht nur Herrads Hortus deliciarum eigen. Er findet sich in vielen Wissenskompendien,
die in Klöstern, in Schulen oder an Höfen erstellt wurden. Ein eher seltenes
Merkmal ist dagegen der im Hortus als »enzyklopädisch« zu bezeichnende
Anspruch auf umfassende Darstellung eines geordneten Wissensbestandes. ¹⁷ Er
muss selbst als hochinteressante Neuerung gewertet werden: Wie Christel Meier
herausgestellt hat, sind Veränderungen der stark mit Ordnungsvorstellungen aufgeladenen
Gattung der Enzyklopädie immer als Indikatoren unterliegenden sozialen
Wandels zu werten. ¹⁸ Doch auch solche kompendiösen Wissenssammlungen, die
den Kriterien enzyklopädischer Vollständigkeit und Anordnung nicht gerecht werden,
lassen sich in einen ähnlichen Kontext einordnen. Die mit dem Hochmittelalter
neu einsetzende Produktion von Wissenskompendien gibt Einblicke in die Entstehung
unterschiedlicher Nutzungskontexte gelehrten Wissens. Sie soll im Folgenden
daher an wenigen, exemplarischen Texten verfolgt werden, um ein flexibleres Bild
hochmittelalterlicher Innovationstendenzen zu zeichnen. Dazu sollen an verschiedenen
wissensorganierenden oder enzyklopädischen Texten, die religiöses Wissen
enthalten – anhand von Einzelfällen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit – drei
spezifische innovative Dynamiken und ihre Kontexte diskutiert werden. Sie werden
hier aufeinanderfolgend geschildert, treten zwischen c. 1050 und 1250 aber auch
gleichzeitig auf. Es soll zunächst nach der Produktion von Wissen für neue gesell-
17 Zur Begriffsbestimmung des »Enzyklopädischen« im Mittelalter vgl. Christel Meier, Grundzüge der
mittelalterlichen Enzyklopädik. Zu Inhalten, Formen und Funktionen einer problematischen Gattung,
in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposium Wolfenbüttel
1981, hg. von Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5),
Stuttgart 1981, S. 467–500, hier S. 470. Zur Gattung Dies., Enzyklopädischer Ordo und sozialer Gebrauchsraum.
Modelle der Funktionalität einer universalen Literaturform, in: Die Enzyklopädie im Wandel
vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit, hg. von ders. (Münstersche Mittelalter-Schriften 78),
München 2002, S. 511–532 (sowie die weiteren Beiträge ebd., bes. Christel Meier, Einführung, S. 11–24);
Dies., Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und enzyklopädischem Ordo in Mittelalter und
Früher Neuzeit, in: Frühmittelalterliche Studien 36, 2002, S. 171–192; dies., Wissenskodifikation und
Informationsbedarf in der vormodernen Gesellschaft. Neue Forschungsansätze zu einer pragmatischen
Gattungsgeschichte der mittelalterlichen Enzyklopädie, in: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher
Schriftkultur. Akten des Internationalen Kolloquiums 26.–29. Mai 1999, hg. von ders. (Münstersche
Mittelalter-Schriften 79), München 2002, S. 191–210; Michael Baldzuhn, Schulunterricht und Verschriftlichungsprozeß.
Forschungsansätze und Forschungsergebnisse, in: ebd., S. 161–175.
18 Meier, Einführung (wie Anm. 17), S. 18.