Innovation aus Verantwortung | 339
dies dürfte eine genuine Leistung des Mittelalters gewesen sein. Religiosität war im
Mittelalter also kein Phänomen, das sich innerhalb eines pluralistischen Angebots
durch Ausschluss von anderen identitätsstiftenden Merkmalen gewinnen ließ. Der
christliche Glaube war die Grundlage der Kultur, er war in allen Bereichen des Lebens
– im Alltag, in der Politik, im Recht, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und
Kunst – als Maßstab und Letztbegründung präsent. Wer etwa konnte im Mittelalter
die Anerkennung der Gottesherrschaft über die Welt nicht zum wesentlichen
Bestandteil seiner Identität rechnen? Weder der Laie, noch der Kleriker, weder der
Heilige, noch der Frevler, noch der Häretiker.
Mönchen oder Nonnen wurde indes mehr abverlangt, als nur den Geboten Gottes
zu folgen. Sie hatten im Verlangen nach Heiligung ihrer Seele den Abschied von
der äußeren Welt in Kauf genommen und sich unter Verzicht auf eigene Willkürlichkeit
gehorsam den strikten Regeln eines gemeinschaftlichen Lebens im Kloster
unterworfen. Sinn hatte dies nur geboten, weil dort – entfernt von irdischer Unbeständigkeit
und eingebettet in den Gleichklang einer strikt organisierten Ordnung
– besser als irgendwo anders das Entscheidende gewährleistet war: nämlich
Gottes Transzendenz nicht nur zu begreifen, sondern diese sich seiner individuellen
Seele immanent zu machen, indem man – wie es hieß – Gott durch die Tugend der
Liebe und des Gehorsams eine Wohnstätte in der eigenen Seele zu geben suchte.
Diese erstrebte Vereinigung war der Kern klösterlicher Religiosität. Aus ihm lässt
sich alles Weitere erklären. Möglich werden konnte er nur im abgegrenzten Raum
einer klösterlichen Sonderwelt, virulent jedoch wurde er für die gesamte Welt der
Christenheit.
»Eintretend in ein Kloster gibt er Haut für Haut und alles, was er hat, seiner Seele,
während er ablegt den alten Menschen und annimmt den neuen – hineinschreitend
in eine neue Form des Lebens.« ² Mit diesen Worten hatte im 12. Jahrhundert
Petrus, Abt von Moûtier-la-Celle, deutlich die Grenze zwischen Welt und Kloster
gezogen. Sie individuell zu überschreiten, verlangte eine irreversible und »gänzliche
Konversion des Herzen zu Gott«. ³ Wenn an die Bereitschaft zur Duldsamkeit, zum
Fasten und Fleischverzicht, zum Schweigen, das kommunikativ wurde nur durch
eine stille Zeichensprache, sowie an die Bereitschaft zur Kontemplation und zu
Nachtwachen appelliert wurde, wenn Stolz und Hochmut (superbia) als höchste
Laster, Demut (humilitas) hingegen als diejenige Haltung, die zu vollendeter Tugend
führe, bezeichnet wurden, dann waren Grundforderungen jenes neuen Le-
2 Pierre de Celle, L’école du cloître, hg. von Gérard de Martel (Sources chrétiennes 240/Série des textes
monastiques d’Occident 47), Paris 1977, S. 192, 194.
3 Epistola cujusdam de doctrina vitae agendae (12. Jahrhundert), in: Patrologia Latina, hg. von Jacques-Paul
Migne, Bd. 184, Paris 1854, Sp.1185 –1190, hier Sp. 1187.
dies dürfte eine genuine Leistung des Mittelalters gewesen sein. Religiosität war im
Mittelalter also kein Phänomen, das sich innerhalb eines pluralistischen Angebots
durch Ausschluss von anderen identitätsstiftenden Merkmalen gewinnen ließ. Der
christliche Glaube war die Grundlage der Kultur, er war in allen Bereichen des Lebens
– im Alltag, in der Politik, im Recht, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und
Kunst – als Maßstab und Letztbegründung präsent. Wer etwa konnte im Mittelalter
die Anerkennung der Gottesherrschaft über die Welt nicht zum wesentlichen
Bestandteil seiner Identität rechnen? Weder der Laie, noch der Kleriker, weder der
Heilige, noch der Frevler, noch der Häretiker.
Mönchen oder Nonnen wurde indes mehr abverlangt, als nur den Geboten Gottes
zu folgen. Sie hatten im Verlangen nach Heiligung ihrer Seele den Abschied von
der äußeren Welt in Kauf genommen und sich unter Verzicht auf eigene Willkürlichkeit
gehorsam den strikten Regeln eines gemeinschaftlichen Lebens im Kloster
unterworfen. Sinn hatte dies nur geboten, weil dort – entfernt von irdischer Unbeständigkeit
und eingebettet in den Gleichklang einer strikt organisierten Ordnung
– besser als irgendwo anders das Entscheidende gewährleistet war: nämlich
Gottes Transzendenz nicht nur zu begreifen, sondern diese sich seiner individuellen
Seele immanent zu machen, indem man – wie es hieß – Gott durch die Tugend der
Liebe und des Gehorsams eine Wohnstätte in der eigenen Seele zu geben suchte.
Diese erstrebte Vereinigung war der Kern klösterlicher Religiosität. Aus ihm lässt
sich alles Weitere erklären. Möglich werden konnte er nur im abgegrenzten Raum
einer klösterlichen Sonderwelt, virulent jedoch wurde er für die gesamte Welt der
Christenheit.
»Eintretend in ein Kloster gibt er Haut für Haut und alles, was er hat, seiner Seele,
während er ablegt den alten Menschen und annimmt den neuen – hineinschreitend
in eine neue Form des Lebens.« ² Mit diesen Worten hatte im 12. Jahrhundert
Petrus, Abt von Moûtier-la-Celle, deutlich die Grenze zwischen Welt und Kloster
gezogen. Sie individuell zu überschreiten, verlangte eine irreversible und »gänzliche
Konversion des Herzen zu Gott«. ³ Wenn an die Bereitschaft zur Duldsamkeit, zum
Fasten und Fleischverzicht, zum Schweigen, das kommunikativ wurde nur durch
eine stille Zeichensprache, sowie an die Bereitschaft zur Kontemplation und zu
Nachtwachen appelliert wurde, wenn Stolz und Hochmut (superbia) als höchste
Laster, Demut (humilitas) hingegen als diejenige Haltung, die zu vollendeter Tugend
führe, bezeichnet wurden, dann waren Grundforderungen jenes neuen Le-
2 Pierre de Celle, L’école du cloître, hg. von Gérard de Martel (Sources chrétiennes 240/Série des textes
monastiques d’Occident 47), Paris 1977, S. 192, 194.
3 Epistola cujusdam de doctrina vitae agendae (12. Jahrhundert), in: Patrologia Latina, hg. von Jacques-Paul
Migne, Bd. 184, Paris 1854, Sp.1185 –1190, hier Sp. 1187.