Metadaten

Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0092
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

59

Es ist eine alte These, China und Indien hätten im Vergleich zum Abendland keine
eigentliche Geschichte. Denn Geschichte bedeute Bewegung, Wesensänderung, neue
Ansätze. Im Abendland folgen sich ganz verschiedene Kulturen, erst die alten vorder-
asiatischen und ägyptischen, dann die griechisch-römische, dann die germanisch-ro-
manische. Es wechseln die geographischen Zentren, der Raum, die Völker. In Asien da-
gegen bleibt ein Gleiches bestehen, das seine Erscheinungen modifiziert, in Katastrophen
versinkt, und sich aus dem einen Grunde als das immer gleiche wiederherstellt. Es ent-
steht bei solcher Betrachtung ein Bild, das östlich des Indus und des Hindukusch unge-
schichtliche Stabilität, westlich geschichtliche Bewegung zeigt. Die tiefste Trennung der
großen Kulturgebiete liegt dann zwischen Persien und Indien. Der Europäer könne bis an
den Indus glauben, noch in Europa zu sein, sagte Lord Elphinstone34 (den Hegel zitiert)1.
Diese Auffassung scheint mir entsprungen zu sein aus der geschichtlichen Lage
Chinas und Indiens im 18. Jahrhundert. Der Lord sah die Zustände seiner Zeit, keines-
wegs China und Indien in ihrem gesamten Gehalt. Damals waren beide auf ihrem Weg
bergab auf einen tiefen Punkt gelangt.
Ist das Zurückgleiten in Indien und China seit dem 17. Jahrhundert nicht wie ein
großes Symbol für das aller Menschheit Mögliche? Ist nicht auch unsere Schicksals-
frage: nicht zurückzusinken in den asiatischen Grund, aus dem auch China und In-
dien sich schon aufgeschwungen hatten?
3) Die nachkommenden Völker. - Alle Völker scheiden sich in die, welche auf
die Durchbruchswelt sich gründen, und die, welche abseits bleiben. Jene sind die
geschichtlichen Völker, diese die Naturvölker.
Das in der Durchbruchswelt selber die neuen Großreiche politisch strukturierende
Element waren die Makedonen und Römer. Ihre geistige Armut liegt daran, daß sie von
den Durchbruchserfahrungen nicht im Kern ihrer Seele getroffen sind. Daher vermö-
gen sie wohl in der geschichtlichen Welt politisch zu erobern, zu verwalten, zu orga-
nisieren, Bildung anzueignen und zu | bewahren, eine Kontinuität der Überlieferung 79
zu retten, aber nicht die Erfahrung fortzusetzen oder zu vertiefen.
Anders der Norden. Die große geistige Revolution zwar war, so wenig wie in Baby-
lonien und Ägypten, ebenso wenig im Norden geschehen. Die nordischen Völker la-
gen im Schlummer einer Primitivität, aber sie waren mit dem für uns objektiv schwer

Ein ähnliches Bild hat Alfred Weber entworfen. Von ihm werden die alten Hochkulturen Ägyptens
und Babyloniens mit den bis heute lebenden Kulturen Chinas und Indiens unter den gleichen
Typus primärer, ungeschichtlich bleibender, magisch gebundener Kulturen gebracht, denen die
Sekundärkulturen gegenüberstehen, die allein im Abendlande erwachsen sind.
Der Grundgedanke der Unterscheidung von Primär- und Sekundärkulturen, der offenbar auf
eine Wirklichkeit hinweist, scheint uns dennoch nicht treffend. Sekundärkultur war schon die
babylonische gegenüber der sumerischen, die indisch-arische gegenüber der vorarischen, wahr-
scheinlich waren in China ähnliche Aneignungen durch neu hinzukommende Völker, die zu-
gleich Verwandlungen bedeuteten.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften