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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0009
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VIII Vorwort

Seine Zeit in sich zu überwinden,,zeitlos4 zu werden. Womit also hat er seinen
härtesten Strauss zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das Kind seiner Zeit
ist. Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein
decadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte. Der
Philosoph in mir wehrte sich dagegen“ (KSA 6, 11).
Während sich Nietzsches Historienschrift auf die Geschichtskultur des
19. Jahrhunderts als übergeordnetes Epochenphänomen konzentriert, beziehen
sich die drei anderen Unzeitgemässen Betrachtungen jeweils auf einzelne Perso-
nen, um deren Stellenwert im kulturellen Kontext zu reflektieren. In David
Strauss der Bekenner und der Schriftsteller attackiert Nietzsche den durch das
Buch Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet längst bekannten und heftig umstritte-
nen Theologen David Friedrich Strauß, nicht zuletzt um Wagner damit einen
Gefallen zu tun. Dabei nimmt Nietzsche allerdings nur Strauß’ Alterswerk Der
alte und der neue Glaube polemisch ins Visier, in dem dieser das Christentum
durch eine fortschrittsoptimistische Universalreligion zu ersetzen versucht.
Neben konzeptionellen Ungereimtheiten und gedanklichen Inkonsequenzen
kritisiert Nietzsche an dieser Schrift auch stilistische Schwächen und die prä-
tentiöse Selbstinszenierung des Autors, den er als den Prototyp eines banalen
,Bildungsphilisters4 desavouiert.
Im Unterschied zum polemischen Gestus von David Strauss der Bekenner
und der Schriftsteller sind die dritte und vierte der Unzeitgemässen Betrachtun-
gen auf Vorbildfiguren fokussiert: In Schopenhauer als Erzieher beleuchtet
Nietzsche die Persönlichkeit Arthur Schopenhauers vor dem Hintergrund sei-
ner Philosophie und hebt dabei vor allem das auf Autarkie basierende Lebens-
modell, den Authentizitätsanspruch und das Wahrhaftigkeitsethos als Charak-
teristika seines philosophischen Lehrers hervor. In Richard Wagner in Bayreuth
macht er verschiedene Stationen im Leben des Komponisten zum Thema und
fokussiert dabei Wagners Bayreuth-Projekt, seine theoretischen Konzepte und
sein Opernwerk. Indem Nietzsche in diesen Schriften Schopenhauer und Wag-
ner als vorbildliche Persönlichkeiten exponiert, schafft er einen Kontrast zu
den kritischen Epochendiagnosen in allen vier Unzeitgemässen Betrachtungen.
Eine besonders interessante Wirkungsgeschichte wurde der Schrift Vom
Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben zuteil. Denn sie erlangte Bedeu-
tung in der breiten und facettenreichen Historismus-Diskussion, die schon die
zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmte und sich später auch in den intel-
lektuellen Diskurs des 20. Jahrhunderts prolongierte (vgl. dazu die Kapitel II.7
und II.8 im Überblickskommentar). In der von zahlreichen Autoren rezipierten
Historienschrift entfaltet Nietzsche seine bekannt gewordene Differenzierung
zwischen der ,monumentalischen4, antiquarischen4 und ,kritischen4 Art der
Historie. Unter dem Gesichtspunkt des ,Lebens4 problematisiert er die große
 
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