Vorwort IX
Konjunktur der Geschichtswissenschaft und der historischen Bildung4 in sei-
ner Epoche. Zugleich betrachtet er diese Phänomene als repräsentativ für prin-
zipielle Probleme, die er mit Wissenschaft und Erkenntnis generell verbunden
glaubt. In diesem Zusammenhang kritisiert Nietzsche nicht nur die Überfor-
mung der Historiographie durch die idealistische Geschichtsphilosophie, son-
dern auch die positivistische Fixierung auf historische Faktizität und vermeint-
liche ,Objektivität4. Da er Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft durch eine
forcierte und einseitige Vergangenheitsorientierung gefährdet sieht, diagnosti-
ziert er den hypertrophen historischen Sinn4 als ein Decadence-Symptom und
reflektiert eingehend die problematischen Konsequenzen des Historismus in
der Kultur seiner eigenen Epoche.
In der Retrospektive der Spätschrift Ecce homo, in der Nietzsche durch eine
autoritative Bewertung seiner früheren Werke auf dauerhafte Selbststilisierung
für die Nachwelt zielt, charakterisiert er den spezifischen Gestus der Unzeitge-
mässen Betrachtungen so: „Die vier Unzeitgemässen sind durchaus kriege-
risch. Sie beweisen, dass ich kein ,Hans der Träumer4 war, dass es mir Vergnü-
gen macht, den Degen zu ziehn, - vielleicht auch, dass ich das Handgelenk
gefährlich frei habe44 (KSA 6, 316). Nietzsches Rückblick auf die Historienschrift
zeigt zugleich, inwiefern er seine Kritik an der eigenen Epoche, insbesondere
an obsoleten Bildungskonzepten, am Primat einer sterilen, lebensfernen Ra-
tionalität und an der Heterogenität der modernen Zivilisation, letztlich auf
die Kultur der Zukunft als den eigentlichen Zweck hin funktionalisiert: „Die
zweite Unzeitgemässe (1874) bringt das Gefährliche, das Leben-Annagende
und -Vergiftende in unsrer Art des Wissenschafts-Betriebs an’s Licht - : [...] Der
Zweck geht verloren, die Cultur: - das Mittel, der moderne Wissenschafts-
Betrieb, barbarisirt... In dieser Abhandlung wurde der historische Sinn4,
auf den dies Jahrhundert stolz ist, zum ersten Mal als Krankheit erkannt, als
typisches Zeichen des Verfalls“ (KSA 6, 316). Gegen dieses von ihm bereits in
der Historienschrift pathologisierte Epochensyndrom führt Nietzsche das Ideal
der Jugend ins Feld, das für ihn die Hoffnung auf eine von Vitalität und kreati-
ven Energien erfüllte Zukunft repräsentiert.
Den vier Unzeitgemässen Betrachtungen insgesamt ist die Kritik am zeitge-
nössischen Bildungssystem und Wissenschaftsbetrieb sowie das Engagement
für eine zukünftige „Kultur“ gemeinsam, die Nietzsche als „Einheit des künst-
lerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“ definiert (KSA 1,163,
274). Damit bezieht er eine Gegenposition zum Historismus des 19. Jahrhun-
derts, in dem durch einen eklektischen Stilpluralismus die für frühere Kulturen
charakteristische Homogenität verloren gegangen sei.
Im Falle von Schopenhauer als Erzieher und Richard Wagner in Bayreuth
unterscheiden sich Nietzsches Bewertungen in zahlreichen späteren Stellung-
Konjunktur der Geschichtswissenschaft und der historischen Bildung4 in sei-
ner Epoche. Zugleich betrachtet er diese Phänomene als repräsentativ für prin-
zipielle Probleme, die er mit Wissenschaft und Erkenntnis generell verbunden
glaubt. In diesem Zusammenhang kritisiert Nietzsche nicht nur die Überfor-
mung der Historiographie durch die idealistische Geschichtsphilosophie, son-
dern auch die positivistische Fixierung auf historische Faktizität und vermeint-
liche ,Objektivität4. Da er Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft durch eine
forcierte und einseitige Vergangenheitsorientierung gefährdet sieht, diagnosti-
ziert er den hypertrophen historischen Sinn4 als ein Decadence-Symptom und
reflektiert eingehend die problematischen Konsequenzen des Historismus in
der Kultur seiner eigenen Epoche.
In der Retrospektive der Spätschrift Ecce homo, in der Nietzsche durch eine
autoritative Bewertung seiner früheren Werke auf dauerhafte Selbststilisierung
für die Nachwelt zielt, charakterisiert er den spezifischen Gestus der Unzeitge-
mässen Betrachtungen so: „Die vier Unzeitgemässen sind durchaus kriege-
risch. Sie beweisen, dass ich kein ,Hans der Träumer4 war, dass es mir Vergnü-
gen macht, den Degen zu ziehn, - vielleicht auch, dass ich das Handgelenk
gefährlich frei habe44 (KSA 6, 316). Nietzsches Rückblick auf die Historienschrift
zeigt zugleich, inwiefern er seine Kritik an der eigenen Epoche, insbesondere
an obsoleten Bildungskonzepten, am Primat einer sterilen, lebensfernen Ra-
tionalität und an der Heterogenität der modernen Zivilisation, letztlich auf
die Kultur der Zukunft als den eigentlichen Zweck hin funktionalisiert: „Die
zweite Unzeitgemässe (1874) bringt das Gefährliche, das Leben-Annagende
und -Vergiftende in unsrer Art des Wissenschafts-Betriebs an’s Licht - : [...] Der
Zweck geht verloren, die Cultur: - das Mittel, der moderne Wissenschafts-
Betrieb, barbarisirt... In dieser Abhandlung wurde der historische Sinn4,
auf den dies Jahrhundert stolz ist, zum ersten Mal als Krankheit erkannt, als
typisches Zeichen des Verfalls“ (KSA 6, 316). Gegen dieses von ihm bereits in
der Historienschrift pathologisierte Epochensyndrom führt Nietzsche das Ideal
der Jugend ins Feld, das für ihn die Hoffnung auf eine von Vitalität und kreati-
ven Energien erfüllte Zukunft repräsentiert.
Den vier Unzeitgemässen Betrachtungen insgesamt ist die Kritik am zeitge-
nössischen Bildungssystem und Wissenschaftsbetrieb sowie das Engagement
für eine zukünftige „Kultur“ gemeinsam, die Nietzsche als „Einheit des künst-
lerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“ definiert (KSA 1,163,
274). Damit bezieht er eine Gegenposition zum Historismus des 19. Jahrhun-
derts, in dem durch einen eklektischen Stilpluralismus die für frühere Kulturen
charakteristische Homogenität verloren gegangen sei.
Im Falle von Schopenhauer als Erzieher und Richard Wagner in Bayreuth
unterscheiden sich Nietzsches Bewertungen in zahlreichen späteren Stellung-