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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0012
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Vorwort XI

bis zur Titel-Formulierung für ein Kapitel: Mit der signifikanten Überschrift
„Streifzüge eines Unzeitgemässen“ ist dort ein Abschnitt versehen (vgl. KSA 6,
111-153), in dem sich der Anspruch der Unzeitgemässen Betrachtungen auf kriti-
sche Gegenwartsdiagnose prolongiert. Thematische Korrespondenzen zeich-
nen sich insofern ab, als Nietzsche auch in den „Streifzügen eines Unzeitge-
mässen“ kulturkritische Reflexionen zu Problemkonstellationen seiner eigenen
Epoche entfaltet. In der Götzen-Dämmerung stellt er sie ebenfalls in den Dienst
einer entschiedenen Zukunftsorientierung.
Insbesondere vor dem Horizont der zeitgenössischen Epigonen-Obsession
erhalten Nietzsches emphatische Zukunftsvisionen und sein Engagement für
eine produktive ,Kultur4 in den Unzeitgemässen Betrachtungen eine programma-
tische Bedeutung. Dies gilt auf spezifische Weise für seine Schrift Vom Nutzen
und Nachtheil der Historie für das Leben. Zugleich ist allerdings festzustellen,
dass die Unzeitgemässen Betrachtungen des jungen Nietzsche in mehrfacher
Hinsicht eine Melange von unzeitgemäßen und zeitgemäßen Vorstellungen bil-
den (vgl. dazu das problemorientierte Kapitel II.9 des Überblickskommentars).
Insgesamt zielt die Kommentierung der Unzeitgemässen Betrachtungen auf eine
umfassende philosophische und kulturhistorische Kontextualisierung. Sie ver-
bindet sich zudem mit kritischer Reflexion zu bestimmten Prämissen und The-
menfeldern dieser Schriften, die mitunter auch den Darstellungsstrategien
Nietzsches gilt.
Durch die Erschließung der umfangreichen Quellen, die Nietzsches Den-
ken im Frühwerk auf so vielfältige Weise geprägt haben, können die immer
noch grassierenden Fehleinschätzungen vieler Nietzsche-Enthusiasten über-
wunden werden, die ihn für einen gänzlich autarken, da unabhängig von der
Tradition reflektierenden Philosophen halten. In diesem Sinne behauptete bei-
spielsweise Jean Amery 1975 in seinem Essay „Nietzsche - der Zeitgenosse. Zu
seiner Betrachtung Schopenhauer als Erzieher“ ebenso lapidar wie apodiktisch:
„Schopenhauer kam von Kant her, Marx von Hegel. Nietzsche aber tauchte aus
dem Nichts heraus“ auf (Jean Amery [1975] 2004, 408). Mit dieser Meinung
schloss Jean Amery an weit verbreitete Vorurteile an, die auf traditionellen Ori-
ginalitätskonzepten basieren und in manchen konventionellen Forschungspo-
sitionen noch bis heute fortwirken. Irrtümlich suggerieren Einschätzungen die-
ser Art, Nietzsche sei - anders als alle anderen Philosophen - mit einer quasi
meteoritenhaften Singularität in die Geistesgeschichte eingebrochen.
Demgegenüber plädierte bereits Mazzino Montinari zu Recht mit Nach-
druck für die Berücksichtigung wirkungsgeschichtlicher Zusammenhänge, und
zwar gerade im Hinblick auf Nietzsches eigene Orientierung an Quellen. Von
einem dynamisch-offenen modernen Werkbegriff ausgehend, sprach sich Mon-
tinari in doppelter Hinsicht für eine ,Öffnung4 von Nietzsches CEuvre aus, näm-
 
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