Überblickskommentar, Kapitel 1.1: Motivation und Entstehung 7
In einer symptomatischen Reflexion gesteht N. am 19. März 1874, also etwa
sieben Monate nach dem Erscheinen von UBI DS und kurz nach der Publika-
tion von UB II HL, in einem Brief an Erwin Rohde sein unwiderstehliches Be-
dürfnis nach Polemik, das ihn bei der Konzeption von UB I DS und UB II HL
im Sinne einer psychohygienischen Notwendigkeit geleitet habe; zugleich for-
muliert N. dort auch selbstkritische Einschätzungen und moderatere Zukunfts-
pläne: „Dass ich es mit meinen Ergüssen ziemlich dilettantisch unreif treibe,
weiss ich wohl, aber es liegt mir durchaus daran, erst einmal den ganzen pole-
misch-negativen Stoff in mir auszustossen; ich will unverdrossen erst die ganze
Tonleiter meiner Feindseligkeiten absingen, auf und nieder, recht greulich,
,dass das Gewölbe wiederhallt4. Später, fünf Jahre später, schmeisse ich alle
Polemik hinter mich und sinne auf ein ,gutes Werk4. Aber jetzt ist mir die Brust
ordentlich verschleimt vor lauter Abneigung und Bedrängniss, da muss ich
mich expectoriren, ziemlich oder unziemlich, wenn nur endgültig. Elf schöne
Weisen habe ich noch abzusingen. -“ (KSB 4, Nr. 353, S. 210-211.) Mit der musi-
kalischen Metapher „Elf schöne Weisen44 bezeichnet N. die von ihm damals
noch geplanten elf weiteren Unzeitgemässen Betrachtungen, denn ursprünglich
hatte er an dreizehn Stücke gedacht (vgl. NL 1873-74, 30 [38], KSA 7, 744-745).
Schon 1873, also im Publikationsjahr von UB I DS, notiert N. für das letzte die-
ser dreizehn Stücke den symptomatischen Titel: „Der Weg zur Freiheit.
Dreizehnte Unzeitgemässe“ (NL 1873, 29 [229], KSA7, 722). Im Mai 1874
wählt er für sein Großprojekt UB I—XIII eine humoristische Fertilitätsmetapho-
rik, indem er von einem „Nest voll halbausgebrüteter Eier“ in seinem Kopf
berichtet (KSB 4, Nr. 365, S. 230). Die Themen der geplanten dreizehn Unzeitge-
mässen Betrachtungen skizziert N. bereits in dem genannten Nachlass-Notat 30
[38] (vgl. KSA 7, 744-745), das aus der Zeit zwischen Herbst 1873 und Winter
1873/74 stammt (vgl. dazu den Anfang dieses Überblickskommentars). - Elisa-
beth Förster-Nietzsche hingegen behauptet in ihrer Biographie Das Leben
Friedrich Nietzsche’s, sie könne sich „genau“ daran erinnern, dass ihr Bruder
zeitweilig sogar „vierundzwanzig“ Unzeitgemässe Betrachtungen plante (Förs-
ter-Nietzsche 1897, Bd. II/l, 138). Überdies erklärt sie diesen Werkplan zu einem
von ihm selbst zunächst anvisierten Team-Projekt: So habe der junge N. ur-
sprünglich „zur Bewältigung dieser außerordentlichen Aufgabe eine Vereini-
gung seiner nächsten Freunde“ ins Auge gefasst, nämlich „die Freunde Profes-
sor Jacob Burckhardt, Professor Rohde, Professor Overbeck und Freiherr von
Gersdorff“; allerdings hätten sich „die Genannten“ später „dieser Thatsache
nicht mehr erinnern“ können (ebd., 137). Zur problematischen Rolle, die Elisa-
beth Förster-Nietzsche im N.-Archiv und in der Geschichte der N.-Editionen
hatte, insbesondere durch die berüchtigte Nachlass-Kompilation Der Wille zur
Macht, vgl. die Informationen von Katrin Meyer (NH 2000b, 437-440) und Da-
vid Marc Hoffmann (NH 2000, 440-443).
In einer symptomatischen Reflexion gesteht N. am 19. März 1874, also etwa
sieben Monate nach dem Erscheinen von UBI DS und kurz nach der Publika-
tion von UB II HL, in einem Brief an Erwin Rohde sein unwiderstehliches Be-
dürfnis nach Polemik, das ihn bei der Konzeption von UB I DS und UB II HL
im Sinne einer psychohygienischen Notwendigkeit geleitet habe; zugleich for-
muliert N. dort auch selbstkritische Einschätzungen und moderatere Zukunfts-
pläne: „Dass ich es mit meinen Ergüssen ziemlich dilettantisch unreif treibe,
weiss ich wohl, aber es liegt mir durchaus daran, erst einmal den ganzen pole-
misch-negativen Stoff in mir auszustossen; ich will unverdrossen erst die ganze
Tonleiter meiner Feindseligkeiten absingen, auf und nieder, recht greulich,
,dass das Gewölbe wiederhallt4. Später, fünf Jahre später, schmeisse ich alle
Polemik hinter mich und sinne auf ein ,gutes Werk4. Aber jetzt ist mir die Brust
ordentlich verschleimt vor lauter Abneigung und Bedrängniss, da muss ich
mich expectoriren, ziemlich oder unziemlich, wenn nur endgültig. Elf schöne
Weisen habe ich noch abzusingen. -“ (KSB 4, Nr. 353, S. 210-211.) Mit der musi-
kalischen Metapher „Elf schöne Weisen44 bezeichnet N. die von ihm damals
noch geplanten elf weiteren Unzeitgemässen Betrachtungen, denn ursprünglich
hatte er an dreizehn Stücke gedacht (vgl. NL 1873-74, 30 [38], KSA 7, 744-745).
Schon 1873, also im Publikationsjahr von UB I DS, notiert N. für das letzte die-
ser dreizehn Stücke den symptomatischen Titel: „Der Weg zur Freiheit.
Dreizehnte Unzeitgemässe“ (NL 1873, 29 [229], KSA7, 722). Im Mai 1874
wählt er für sein Großprojekt UB I—XIII eine humoristische Fertilitätsmetapho-
rik, indem er von einem „Nest voll halbausgebrüteter Eier“ in seinem Kopf
berichtet (KSB 4, Nr. 365, S. 230). Die Themen der geplanten dreizehn Unzeitge-
mässen Betrachtungen skizziert N. bereits in dem genannten Nachlass-Notat 30
[38] (vgl. KSA 7, 744-745), das aus der Zeit zwischen Herbst 1873 und Winter
1873/74 stammt (vgl. dazu den Anfang dieses Überblickskommentars). - Elisa-
beth Förster-Nietzsche hingegen behauptet in ihrer Biographie Das Leben
Friedrich Nietzsche’s, sie könne sich „genau“ daran erinnern, dass ihr Bruder
zeitweilig sogar „vierundzwanzig“ Unzeitgemässe Betrachtungen plante (Förs-
ter-Nietzsche 1897, Bd. II/l, 138). Überdies erklärt sie diesen Werkplan zu einem
von ihm selbst zunächst anvisierten Team-Projekt: So habe der junge N. ur-
sprünglich „zur Bewältigung dieser außerordentlichen Aufgabe eine Vereini-
gung seiner nächsten Freunde“ ins Auge gefasst, nämlich „die Freunde Profes-
sor Jacob Burckhardt, Professor Rohde, Professor Overbeck und Freiherr von
Gersdorff“; allerdings hätten sich „die Genannten“ später „dieser Thatsache
nicht mehr erinnern“ können (ebd., 137). Zur problematischen Rolle, die Elisa-
beth Förster-Nietzsche im N.-Archiv und in der Geschichte der N.-Editionen
hatte, insbesondere durch die berüchtigte Nachlass-Kompilation Der Wille zur
Macht, vgl. die Informationen von Katrin Meyer (NH 2000b, 437-440) und Da-
vid Marc Hoffmann (NH 2000, 440-443).