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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0050
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24 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

mäßheir (vgl. z. B. KSA 1, 346,13; 361, 9-14) bereits bei Schopenhauer präfigu-
riert ist, zeigt exemplarisch eine Textpassage im 20. Kapitel „lieber Urtheil,
Kritik, Beifall und Ruhm“ der Parerga und Paralipomena II. Hier entfaltet Scho-
penhauer eine kontrastiv angelegte Argumentation: Während die „Werke ge-
wöhnlichen Schlages [...] mit dem Geiste der Zeit, d h. den gerade herrschen-
den Ansichten, genau verbunden und auf das Bedürfniß des Augenblicks
berechnet“ sind, trifft dies auf die „außerordentlichen Werke“ nicht zu, „wel-
che bestimmt sind, der ganzen Menschheit anzugehören und Jahrhunderte zu
leben“; denn diese sind „bei ihrem Entstehn, zu weit im Vorsprung, eben des-
halb aber der Bildungsepoche und dem Geiste ihrer eigenen Zeit fremd. Sie
gehören diesen nicht an, sie greifen in ihren Zusammenhang nicht ein, gewin-
nen also den darin Begriffenen kein Interesse ab. Sie gehören eben einer an-
dern, einer hohem Bildungsstufe und einer noch fern liegenden Zeit an“ (PP II,
Kap. 20, § 242, Hü 504), sind also in N.s Sinne unzeitgemäß.
Im näheren Kontext reflektiert Schopenhauer über die Voraussetzungen,
die erfüllt sein müssen, „um etwas Großes zu leisten, etwas, das seine Genera-
tion und sein Jahrhundert überlebt“; seines Erachtens liegt „eine Hauptbedin-
gung“ darin, „daß man seine Zeitgenossen, nebst ihren Meinungen, Ansichten
und daraus entspringendem Tadel und Lobe, für gar nichts achte“, weil sie
„vom rechten Wege abführen. Daher muß, wer auf die Nachwelt kommen will,
sich dem Einflüsse seiner Zeit entziehn, dafür aber freilich auch meistens dem
Einfluß auf seine Zeit entsagen und bereit seyn, den Ruhm der Jahrhunderte
mit dem Beifall der Zeitgenossen zu erkaufen“ (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 503).
Umgekehrt gelte, dass „die Werke gewöhnlichen Schlages [...] mit dem Geiste
der Zeit, d. h. den gerade herrschenden Ansichten, genau verbunden und auf
das Bedürfniß des Augenblicks berechnet“ sind und gerade deshalb rasch An-
erkennung finden (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 504). Aus diesen Einschätzungen
leitet Schopenhauer die Folgerung ab: „Die ausgezeichneten Geister dringen
selten bei Lebzeiten durch; weil sie im Grunde doch bloß von den ihnen schon
verwandten ganz und recht eigentlich verstanden werden“; daher „wird die
Reise zur Nachwelt durch eine entsetzlich öde Gegend zurückgelegt“ (PP II,
Kap. 20, § 242, Hü 505). Bei N. wie bei Schopenhauer hängt die mit dem Ideal
der ,Unzeitgemäßheit4 verbundene Zukunftsorientierung wesentlich auch mit
einem biographischen Faktor zusammen: mit dem Leiden an fehlender Reso-
nanz der eigenen Werke in der Gegenwart. Vgl. auch NK 407, 29-31 und NK 364,
7-11.
 
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