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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0052
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26 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Bildung - oder gar ihren Sieg über Frankreich ...“ (KSA6, 316, 3-12). Einer-
seits greift N. durch die Kampfmetaphorik in dieser Aussage auf die Zentralthe-
matik im 1. Kapitel von UBI DS zurück, wo er mit Verve gegen die unter seinen
Zeitgenossen verbreitete Illusion zu Felde zieht, der Sieg im deutsch-französi-
schen Krieg von 1870/71 signalisiere über die militärische Überlegenheit hi-
naus auch eine kulturelle Dominanz Deutschlands. Andererseits verrät N. auch
selbst eine ,,kriegerisch[e]“ Gesinnung (KSA 6, 316, 3), wenn er seine Attacke
auf David Friedrich Strauß nur wenige Seiten später in Ecce homo als „Duell“
charakterisiert (KSA 6, 319, 5).
Im Sommer 1873 eignete N. seine Polemik gegen David Friedrich Strauß mit
freundschaftlichen Widmungsgedichten zwei Personen zu, die ihm besonders
nahestanden, darunter Carl von Gersdorff, dem ,,treueste[n] Freund“, dem der
an Augenproblemen leidende N. den Text „diktirt“ hatte (KSB 4, Nr. 313,
S. 157, Nr. 329, S. 180). Ihm gilt am 25. August 1873 N.s Widmung: „Freund-
schaft schrieb dies Buch, / und wenn es Feindschaft macht, / Sei zum
Trost der Freundschaft, die es schrieb, / gedacht!“ (KSB 4, Nr. 312, S. 156).
Auch in den Monaten nach der Publikation von UB I DS lässt N. eine anhal-
tende Euphorie erkennen. Er beobachtet die in Basler Zeitungen erscheinenden
Rezensionen zu seiner „Straussiade“, auf die „in summa 9 Zeitungsartikel“
reagieren, und informiert darüber am 27. September und 18. Oktober 1873 Carl
von Gersdorff (KSB 4, Nr. 318, S. 165, Nr. 316, S. 161), dem er zugleich auch Wag-
ners Reaktion auf UB I DS mitteilt: „Von R<ichard> W<agner> traf ein herrlich-
heiterer Brief ein, in Betreff der Strussiade [sic] schrieb er ,ich habe wieder
darin gelesen und schwöre Ihnen zu Gott zu, dass ich Sie für den Einzigen
halte, der weiss, was ich will!“4 (KSB 4, Nr. 316, S. 161). Erst als N. von Strauß’
Tod am 8. Februar 1874 erfährt, verringert sich seine Euphorie, so dass er drei
Tage später in einem Brief an Carl von Gersdorff gesteht: „Gestern hat man in
Ludwigsburg David Strauss begraben. Ich hoffe sehr dass ich ihm die letzte
Lebenszeit nicht erschwert habe und dass er ohne etwas von mir zu wissen
gestorben ist. - Es greift mich etwas an. - “ (KSB 4, Nr. 345, S. 200.) Aus einer
brieflichen Mitteilung von Strauß selbst geht hervor, dass sich N.s Hoffnung
nicht erfüllte (vgl. den Beleg am Anfang von Kapitel 1.5 dieses Überblickskom-
mentars).
Die Skrupel, die sich immerhin aus N.s brieflichem Bekenntnis ablesen las-
sen, sind allerdings in den von ihm publizierten Schriften nicht zu erkennen;
allenfalls könnte man sie aus seinen forciert anmutenden Bemühungen um
Selbstverteidigung indirekt erschließen. Im Spätwerk Ecce homo versucht N.
sein Verhalten gegenüber David Friedrich Strauß zu rechtfertigen, indem er
betont, er habe „eine Maxime Stendhals prakticirt“, der dazu rate, den „Eintritt
in die Gesellschaft mit einem Duell zu machen“ (KSA 6, 319, 4-5). Schon die
 
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