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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0056
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30 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

intellektuelle Gestus der Freigeister, Denkkonventionen zu suspendieren und
sich über Beschränkungen traditioneller Normen und Werte hinwegzusetzen,
auch N.s eigenem Selbstverständnis entsprach, zeigt ein Brief, den er am
22. September 1876 an Louise Ott richtete: Dort beschreibt er sich selbst als
„einen Freigeist“, der in der „täglich grösseren Befreiung des Geistes sein
Glück sucht und findet“, um dann emphatisch zu bekennen: „Vielleicht dass
ich sogar noch mehr Freigeist sein will als ich es sein kann!“ (KSB 5, Nr. 552,
S. 185-186). Und in einem nachgelassenen Notat von 1875 sieht N. „die Aufgabe
der Zukunft“ in der „Verbindung eines grossen Centrums von Menschen zur
Erzeugung von besseren Menschen“, die sich von Konventionen „frei“ zu ma-
chen vermögen (NL 1875, 3 [75], KSA 8, 36). Nur wenige Jahre später charakteri-
siert N. sein Werk Menschliches, Allzumenschliches dann sogar im Untertitel mit
programmatischem Anspruch als Ein Buch für freie Geister (KSA 2, 9) und wid-
met es Voltaire, einem Freigeist par excellence, zum 100. Todestag am 30. Mai
1878 (KSA 2, 10). Zur Freigeist-Thematik bei N. und ihrem kulturellen Kontext
vgl. auch NK 296, 30-34.
In der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II begründet N. seine
Motivation für die Polemik gegen David Friedrich Strauß folgendermaßen: „Je-
ner zornige Ausbruch gegen die Deutschthümelei, Behäbigkeit und Sprach-Ver-
lumpung des alt gewordenen David Strauss, der Inhalt der Ersten Unzeitge-
mässen, machte Stimmungen Luft, mit denen ich lange vorher, als Student,
inmitten deutscher Bildung und Bildungsphilisterei gesessen hatte (ich mache
Anspruch auf die Vaterschaft des jetzt viel gebrauchten und missbrauchten
Wortes ,Bildungsphilister4- )“ (KSA 2, 369, 21 - 370, 4). Einen - de facto nicht
berechtigten (Janz 1978, Bd. 1, 558) - Prioritätsanspruch auf den Neologismus
,Bildungsphilister4, den er außer in UB I DS auch in UBIII SE verwendet
(KSA 1, 352, 27), erhebt N. noch in seiner Spätschrift Ecce homo. Hier behauptet
er selbstbewusst: „das Wort Bildungsphilister ist von meiner Schrift her in der
Sprache übrig geblieben“ (KSA 6, 317, 16-17). Vgl. dazu auch NK 165, 6 und
NK 326, 13-14.
Indem N. der englischen Schopenhauer-Übersetzerin Helen Zimmern seine
Schrift UB I DS vor der Eröffnung der Bayreuther Festspiele im August 1876
als eine Art von Visitenkarte überreicht, zelebriert er eine Geste, die seinen
nachhaltigen Stolz auf das Erste Stück der Unzeitgemässen Betrachtungen zum
Ausdruck bringt. Außer in Menschliches, Allzumenschliches II und Ecce homo
kommt N. noch in anderen Werkpartien auf David Friedrich Strauß zu spre-
chen: etwa in seiner Historienschrift UB II HL (KSA 1, 314, 26-28) und in der
Götzen-Dämmerung, in der er „die Entartung unsres ersten deutschen Freigeis-
tes, des klugen David Strauss, zum Verfasser eines Bierbank-Evangeliums
und ,neuen Glaubens4“ kritisiert (KSA 6, 104, 31 - 105, 1). Und im Antichrist
 
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