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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0058
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32 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

außerordentlichen Kritikers verspottete, war nicht das Ereigniß, sondern daß ich den
deutschen Geschmack bei einer compromittirenden Geschmacklosigkeit in flagranti er-
tappte: er hatte Straußens .alten und neuen Glauben“ einmüthig, trotz aller religiös-theo-
logischen Partei-Verschiedenheit, als ein Meisterstück von Freiheit und Feinheit des Geis-
tes (auch des Stils!) bewundert. Meine Schrift war das erste Attentat auf die deutsche
Bildung (- jene .Bildung“, welche, wie man rühmte, über Frankreich den Sieg errungen
habe -); das von mir formulirte Wort .Bildungsphilister“ ist aus dem wüthenden Hinund-
her der Polemik in der Sprache zurückgeblieben.
Fünf Monate später spricht N. in einem auf den 25. Juli 1888 datierten Brief an
Carl Spitteier UBI DS einen Sonderstatus im Hinblick auf seine eigene Reputa-
tion zu, weil diese Schrift ihm dauerhaft „Respekt“ verschafft habe. Mit osten-
tativem Selbstbewusstsein verkündet er (KSB 8, Nr. 1071, S. 371):
„Ich bin einer der Wenigen, die kein Bedenken tragen, sich zu compromittiren: eine sehr
bedenkliche Art Mensch! Thatsächlich erfreue ich mich eines ganz beträchtlichen Anse-
hens - und werde, heimlich, viel gelesen. Es ist etwas, der unabhängigste Geist Europas
zu sein. Ich habe in jeder größeren Stadt einen Verehrer-Kreis, selbst noch in Baltimore.
Mein werthvollster Schritt dazu, um mir ein-für-alle Mal Respekt zu garantiren, war
mein Attentat auf die deutsche .Bildung“ zur Zeit der höchsten nationalen Selbst-Anbe-
thung, bei Gelegenheit eines miserablen, aber allseits bewunderten Buchs des alters-
schwachen Strauß. Es gab gegen 200 zum Theil sehr leidenschaftliche Antworten darauf -
und die Sympathie aller tieferen Naturen. Der alte Hegelianer Bruno Bauer war seitdem
Nietzschianer. Im Übrigen war ich damals durchaus kein .Neuling“, wie Sie zu glauben
scheinen. Ich hatte die Autorität eines jungen Genies in allen Universitäts-Kreisen
Deutschlands“ (KSB 8, Nr. 1071, S. 370).
Auch das Diktum von Stendhal instrumentalisiert N. in diesem Brief erneut als
Medium zum Zweck der sozialen Selbstlegitimation: „Die erste Klugheit, um ,in
der Gesellschaft4 in Betracht zu kommen, ist, gleich beim Eintritt, ein Duell4 sagt
Stendhal. Das wußte ich nicht, aber das habe ich gemacht. N.s frohgemute
Behauptung, er habe sich durch UB I DS „ein-für-alle Mal Respekt“ verschafft
(KSB 8, Nr. 1071, S. 370), erscheint um so erstaunlicher, als N.s altphilologischer
Mentor Friedrich Ritschi ihn bei einem Besuch wegen seiner Rücksichtslosigkeit
gegenüber Strauß geradezu mit einem „Wort-Feuer“ angegriffen hatte, wie N.
selbst seinem Freund Erwin Rohde bereits anderthalb Jahrzehnte früher, „am
Sylvestertage 1873-74“, mitteilte (KSB 4, Nr. 338, S. 187). Allerdings zeigte sich
N. von Ritschis Attacke und dem Vorwurf „hochmüthig“ zu sein, in diesem Brief
völlig unbeeindruckt: So fühlte er sich damals ganz „unverwundet“ und schreibt
zu Ritschis Vorhaltungen: „Gesammteindruck war hoffnungslos: [...] Ich erfuhr,
dass Deutschland in den .Flegeljahren4 sei: weshalb ich mir auch das Recht
nahm, etwas Flegel sein zu dürfen (nämlich meine Maasslosigkeit und Rohheit
gegen Strauss wurde gerügt)“ (KSB 4, Nr. 338, S. 187).
Auch die Klagen, die N. anlässlich einer kritischen Rezension schon am
27. Oktober 1873 in einem Brief an Carl von Gersdorff formuliert, zeigen ein Bild
 
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