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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0075
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Überblickskommentar, Kapitel 1.5: Rezeption 49

„seine antikisierende Sprachkunst auf der Höhe ihrer reifen Meisterschaft“ und
wundert sich zugleich darüber, dass UB IDS und UB II HL, „obwohl sie nur
verneinender Natur sind, doch ausgewogener und großzügiger geriethen als
die beiden bejahenden“ in Gestalt von UB III SE und UB IV WB (Lessing 1925,
27). In UB I DS habe N. Strauß als „Bildungsphilister [...] unsterblich verlächer-
licht“ (ebd., 30), obwohl er ihm „als Person wahrlich nicht wehe tun wollte“
und mit „tragische[m] Ernst“ dabei sogar die eigene Reputation riskierte (vgl.
ebd., 31). In extremem Gegensatz zu der Vielzahl kritischer Stimmen in der
Rezeptionsgeschichte erklärt Lessing sogar: „Das ,Pamphlet wider Strauß4 ...
der Nachwelt erscheint es als eine der schönsten Streitschriften, durch die ein
Genius sich schützt gegen ,die geballte Majorität der zeitgenössischen Talente,
mit denen er nicht verwechselt werden will4. Das Recht dieser Schrift liegt also
nicht darin, daß sie wahr, sondern daß sie wahrhaftig ist. Ich glaube, daß wer-
tender Geist immer mordet; er kann gar nicht anders“ (ebd., 31-32). Immerhin
räumt Lessing hinsichtlich der Unzeitgemässen Betrachtungen summarisch ein:
„Mancher Ton klingt schrill. Mancher Schrei war zu humorlos bitter“ (ebd., 33).
Verständlich und gerechtfertigt erscheint ihm ein solcher Gestus allerdings als
Ausdruck von N.s Ringen „um die Eigenbestimmung“: „schon fühlt er die Fes-
seln und bäumt wild sich dagegen, um sie zu sprengen ...“ (ebd., 33).
Der dänische Literaturkritiker und Philosoph Georg Brandes, dem N. sei-
ne Schriften Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral zugesandt
hatte (vgl. Brandes 2004, 112), trug seit 1888 durch seine Vorlesungen über N.
maßgeblich zu dessen Wirkung bei. Auf der Basis dieser Vorlesungen publizier-
te Brandes 1889 sein N.-Buch (zunächst in dänischer Sprache); die deutsche
Übersetzung trägt den Titel Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristo-
kratischen Radikalismus. Über UB I DS heißt es hier: „Nietzsche wurde zum ers-
ten Male oft genannt, wenn auch nicht viel gerühmt, wegen einer bissigen,
jugendlichen Streitschrift gegen David Strauss, von dessen Buch ,Der alte und
der neue Glaube4 hervorgerufen. Nicht gegen den ersten kriegerischen Ab-
schnitt des Werks, sondern gegen den ergänzenden, aufbauenden Teil dessel-
ben ist hier ein in seinem Tone pietätloser Angriff gerichtet“ (ebd., 31). Brandes
geht auch auf die Kritik am „Bildungsphilistertum“ ein, die N. durch „viele
malende Ausdrücke [...] als den Morast“ schildere, „in dem alle Müdigkeit ste-
ckenbleibt und in dessen giftigem Nebel alles Streben dahinsiecht“ (ebd., 36).
Obwohl Brandes das CEuvre N.s insgesamt mit großer Wertschätzung charakte-
risiert und ihn als den „interessanteste[n] Schriftsteller“ in der „Literatur des
gegenwärtigen Deutschlands“ bezeichnet (ebd., 25), beanstandet er N.s Ten-
denz, wesentliche Einflüsse anderer Autoren auf sein Werk zu kaschieren und
gerade gegen anregende Vorgänger besonders zu polemisieren (vgl. ebd., 97-
101).
 
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