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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0082
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56 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Evolutionstheorie sowie vom Weltbild der modernen Wissenschaften über-
haupt nachhaltig beeinflusst ist. Gerade an diesem provokativen Ansatz des
Theologen Strauß nahmen vor allem konservative christliche Kreise Anstoß.
Sie hielten sein Buch Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß für höchst
problematisch, weil Strauß in diesem Werk, ausgehend von fortschrittlichen
Prämissen und kritischer Epochendiagnose, die orthodoxen Fundamente des
Christentums zu eliminieren versucht. Denn Strauß verabschiedet mit seinem
radikalen Konzept zentrale christliche Denktraditionen und Glaubensinhalte.
Bei seiner umfassenden Neuorientierung meint er sich auf zahlreiche fort-
schrittlich gesonnene Zeitgenossen berufen zu können, die seine Überzeugun-
gen gleichfalls vertreten. Diese Gruppe möglicher Gefolgsleute versucht Strauß
in ANG demonstrativ durch das Personalpronomen „wir“ zu vereinnahmen,
das er in seinem Buch mit penetrantem Nachdruck wiederholt, um eine Grup-
penidentität von Anhängern zu konstituieren. In der Tat fand Strauß mit sei-
nem Konzept einer pantheistisch ausgerichteten Humanitätsreligion, mit dem
er sich energisch vom orthodoxen Christentum distanzierte, Anklang in man-
chen progressiv gesonnenen Gruppierungen. In diesen Kreisen galt Der alte
und der neue Glaube. Ein Bekenntniß sogar als eine Art von ,Kultbuch4.
Dass Strauß’ ANG in N.s Umfeld auf entschiedene Ablehnung stieß, hat
unterschiedliche Gründe. Zum einen gab es fundamentale ideologische Diskre-
panzen zwischen dem liberalen Fortschrittsdenken und Humanitätskonzept,
das David Friedrich Strauß propagierte, und dem kulturreformatorischen Pa-
thos Richard Wagners, von dem auch sein Umfeld maßgeblich geprägt war.
Zum anderen wurden Einwände formuliert, die auf den gedanklichen Gestus
und die stilistische Gestaltung von ANG zielten. So bezeichnete Cosima Wagner
Strauß’ ANG in einer Tagebuch-Notiz vom 7. Februar 1873 als „entsetzlich
seicht“ (Cosima Wagner: Tagebücher, Bd. I, 1976, 638). Der Musikkritiker und
Schriftsteller Edouard Schure schrieb N. am 13. August 1873 an seinen Urlaubs-
ort Flims einen Brief, in dem er enthusiastisch auf die soeben erschienene
UB I DS reagierte und zugleich „das nüchterne und altkluge Buch von Strauß“
verurteilte, vor allem „seine lächerlich-impertinent frivole Widerlegung Scho-
penhauers“ und „die verflachend unersprießliche Tendenz der ganzen Schrift“
(KGB II4, Nr. 452, S. 286). Franz Overbeck nahm in seiner Schrift Ueber die
Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Streit- und Friedensschrift (1873, 75)
Anstoß an Strauß’ „moralisch-religiösen Rathschlägen und Schilderungen“,
die bloß „die Oberfläche des menschlichen Treibens streifen, das etwa in den
Zeitungen an das Tageslicht tritt“.
Sogar Emil Kuh, der sich 1878 mit seiner umfangreichen Rezension Profes-
sor Friedrich Nietzsche und David Friedrich Strauß. Eine kritische Studie vehe-
ment gegen N.s UB I DS wendete, musste konzedieren: ,„Der alte und der neue
 
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