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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0124
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98 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

aller Art entstand zuletzt eine ungeheure Sicherheit im Vernichten und Verur-
theilen, durch die fortwährende Übung - und dadurch wieder ein Zutrauen auf
Seiten der Nichtproduzirenden zu ihrer eignen Kultur als einem Maß-
stabe. Worin bestand denn das Positive? In einem gewissen Behagen, das
jenem praktischen Experimentiren entgegengesetzt war; Behagen am eignen
Leben. Dazu fanden sich auch noch Talente, die dies verherrlichten, die idylli-
sche Heimlichkeit des Deutschen, des Gelehrten usw. Diese Behaglichen
suchten [...] alles noch lebendig Produzirende hochmüthig abzuweisen [...] und
erfanden das Epigonenzeitalter [...]“ (NL 1873, 27 [55], KSA 7, 603).
Gemeint sind hier kulturelle Entwicklungen, die sich vor allem seit dem
Anfang des 19. Jahrhunderts abzeichneten und in späteren Phasen des 19. Jahr-
hunderts über Biedermeier und Epigonen-Problematik bis in die Zeit des Histo-
rismus reichten. Die fundamentale Desorientierung im Zusammenhang mit der
beginnenden Moderne löste damals vielfältige spekulative oder experimentelle
Suchbewegungen aus. Dies gilt tendenziell schon für die Mentalität der Frühro-
mantiker seit der Endphase des 18. Jahrhunderts: In den Fragment-Sammlun-
gen von Novalis und Friedrich Schlegel fand die intellektuelle Dynamik der
Suche einen intensiven Ausdruck. N. erwähnt explizit das mythologische Inte-
resse der „Romantiker“ (168, 26). Der Begriff ,Zerstören4 bezieht sich auf die
charakteristische Tendenz zur Aufsprengung etablierter Denkformen und Gat-
tungskonventionen, die sich auch bereits bei den Frühromantikern ausprägte.
Der Begriff ,Experimentiren4 lässt sich ebenfalls schon auf die Fragmente von
Novalis und Schlegel beziehen: Sie sind von überraschenden Einfällen und
experimentellen Entwürfen bestimmt, riskieren anstelle geschlossener philoso-
phischer Systeme das intellektuelle Abenteuer und inszenieren einen ins Offe-
ne weisenden Denkprozess. Der Initialimpuls der beiden Frühromantiker zielt
auf die Durchbrechung starrer systematischer Konstrukte und auf die lebendi-
ge Bewegung der Reflexion. Auf die Vielfalt der Phänomene reagieren sie in
ihren Fragmenten mit polyperspektivischen Denkansätzen. Dabei fungieren
auch Brüche, Widersprüche, ironische Pointierungen und dialektische Um-
schläge als Medium kreativer Denkexperimente. Indem N. im vorliegenden
Kontext von UBI DS außerdem das „Verheissen, Ahnen, Hoffen“ hervorhebt,
betont er zugleich eine schon für die Frühromantik typische Zukunftsorientie-
rung, die etwa in der Idee des ,goldenen Zeitalters4 und in anderen Utopien
einen paradigmatischen Ausdruck fand. Die von N. erwähnten „Philister“ (168,
28) spielen in der Romantik als Antipoden zum genialen Künstler eine zentrale
Rolle. In der Hochromantik kontrastiert E. T. A. Hoffmann die geistige Be-
schränktheit der Philister mit der kreativen Phantasie von Künstlerfiguren, bei-
spielsweise in seiner Erzählung Der goldene Topf.
Historisch weist die vorliegende Textpassage (168, 18 - 169, 23) über die
Romantik allerdings deutlich hinaus. Indem N. einen Rückzug „in’s Idyllische“
 
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