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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0127
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Stellenkommentar UB I DS 2, KSA 1, S. 168-169 101

169,12-15 [...] suchten die Behaglichen nun auch ein für alle mal ein Abkommen
mit den bedenklichen Klassikern und den von ihnen ausgehenden Aufforderun-
gen zum Weitersuchen zu finden] In einem Nachlass-Notat aus der Entstehungs-
zeit von UB I DS heißt es: „Diese Behaglichen suchten jetzt die Klassiker
sich zuzulegen, und alles noch lebendig Produzirende hochmüthig abzuwei-
sen; sie setzten sich in Ruhe und erfanden das Epigonenzeitalter“ (NL 1871, TI
[55], KSA 7, 603). Die Kanonisierung der Klassiker zu einem musealen bürgerli-
chen Besitzstand von nationaler Bedeutung, der zugleich die eigene kulturelle
Identität repräsentieren sollte, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
ein weit verbreitetes Phänomen.
169, 15-18 sie erdachten den Begriff des Epigonen-Zeitalters, nur um Ruhe zu
haben und bei allem unbequemen Neueren sofort mit dem ablehnenden Verdikt
„Epigonenwerk“ bereit sein zu können] Schon seit den 1830er Jahren gehörte
die zeitgenössische Epigonenproblematik, die N. wiederholt reflektiert, zum
kulturkritischen Repertoire der Epoche. Ursprünglich bezeichnete der altgrie-
chische Begriff ,epigonos‘ (eniyovoq) wertneutral den Sohn oder Nachkommen.
Der antiken Mythologie zufolge waren mit dem Begriff ,epigonoi‘ die Söhne der
sieben griechischen Fürsten gemeint, die fast alle im Kampf gegen Theben fie-
len. Nach der sogenannten ,Kunstperiode4 der Klassik und Romantik wurde der
genealogisch-biologische Begriff des ,Epigonen4 durch Immermann kulturkri-
tisch umkodiert und in die geistig-künstlerische Sphäre übertragen. Im Roman
Die Epigonen (1836) betrachtet Immermann seine eigene Schriftsteller-Genera-
tion als epigonal, weil sie unkreativ auf die Nachahmung weit überlegener
geistiger Vorfahren, nämlich der Klassiker und Romantiker, fixiert sei. Zur Pro-
blematik der Epigonalität im Zeitkontext, auf die N. in UB III SE ebenfalls ein-
geht, vgl. auch NK 344, 31-34 und NK 350, 20-21.
Der moderne Begriff des Epigonen bezeichnet den durch einen Mangel an
Originalität gekennzeichneten ,geistigen Erben4, der sich eklektizistisch an
,klassischen4 Vorbildern orientiert, zugleich aber an deren Übergröße leidet. Da
er traditionellen Denkschemata verhaftet bleibt, gelangt der Epigone weder zu
einem kreativen künstlerischen Ausdruck noch zu kritisch-konstruktivem Um-
gang mit der Zeitsituation. In seiner neuen pejorativen Bedeutung fand der
Begriff,Epigone4 bei den Zeitgenossen große Verbreitung; er wurde von Auto-
ren wie Grillparzer, Keller, Stifter und Fontane reflektiert, und zwar sowohl
in theoretischen Schriften als auch in fiktionalen Werken (vgl. dazu Manfred
Windfuhr 1959, 182-209). Im Jahre 1847 diagnostiziert der Schriftsteller und
Literaturhistoriker Robert Prutz die Epigonenproblematik: In seinen Vorlesun-
gen über die deutsche Literatur der Gegenwart spricht er von „Epigonen“, „wel-
che die Erbschaft ihrer großen Vorfahren weder zu erhalten wissen, noch wis-
sen sie dieselbe zu entbehren! die nicht leben könnten ohne die Größe und
 
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