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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0133
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Stellenkommentar UB I DS 2, KSA 1, S. 170-171 107

lieh nur die epigonenhafte Nachahmung oder die ikonische Portraittreue des Ge-
genwärtigen schätzt, so weiss er, dass die letztere ihn selbst verherrlicht und das
Behagen am „Wirklichen“ mehrt] Bereits in der Geburt der Tragödie lässt N.
Ansätze einer analogen Auseinandersetzung mit dem Realismus erkennen.
Dort polemisiert er gegen „die treue Maske der Wirklichkeit“, die er schon bei
Euripides zu erkennen glaubt (KSA 1, 76, 23-24); außerdem kritisiert er die Ma-
nifestationen der „Alltäglichkeit“ und der „bürgerliche [n] Mittelmässigkeit“
(KSA 1, 77, 14-15). In UB I DS nimmt N. auf Positionen der zeitgenössischen
Realismus-Debatte Bezug, indem er die markanten Signalwörter „Nachahmung
der Wirklichkeit“, „epigonenhafte Nachahmung“ und „Copien“ klassischer Mus-
ter verwendet. Zur kritischen Bewertung der „Idyllen“ vgl. NK 168, 32 - 169, 5.
Hier beschreibt N. den Rückzug „in’s Idyllische“ als Charakteristikum des bür-
gerlichen „Philisterglücks“ (168, 32-33) und stellt diesen Eskapismus zugleich
in einen umfassenderen kulturellen Horizont.
In der nachromantischen Epoche des Realismus, die in der europäischen
Literatur zwischen 1830 und 1880 dominierte, wendeten sich die Autoren be-
wusst der Alltagswirklichkeit zu und bemühten sich dabei um eine konkrete
und detaillierte Beschreibung der Realität. Während im französischen Realis-
mus, etwa bei Balzac und Flaubert, eine auf Desillusionierung zielende anti-
bürgerliche Haltung überwiegt, die sich auch in der ausgeprägten Präferenz
für sozialkritische Themen manifestiert, lassen die deutschsprachigen Autoren
des sogenannten poetischen Realismus4, beispielsweise Stifter, Storm, Keller
und Raabe, in ihren Werken eine Tendenz zu humoristischer Abmilderung und
idyllischer Resignation erkennen. Die poetischen Realisten4 überformen die
hässlichen Dimensionen der Wirklichkeit durch Harmonisierung und versu-
chen dabei extreme Dissonanzen zu vermeiden. In der russischen und engli-
schen Literatur repräsentieren Autoren wie Dostojewski, Tolstoi und Dickens
den Realismus.
171,1 Indulgenzen an den Zeitgeschmack] Nachsichtige Zugeständnisse an den
Zeitgeschmack.
171, 3 ikonische Portraittreue des Gegenwärtigen] Gemeint ist hier eine bildhaft-
anschauliche Genauigkeit.
171,12-16 So redet David Strauss, ein rechter satisfait unsrer Bildungszustände
und typischer Philister, einmal mit charakteristischer Redewendung von „Arthur
Schopenhauers zwar durchweg geistvollem, doch vielfach ungesundem und un-
erspriesslichem Philosophiren.“] Mit dem französischen Begriff ,satisfait4 be-
schreibt N. David Friedrich Strauß als einen zufriedenen Spießer. Zugleich zi-
tiert er hier aus Strauß’ ANG: „Die warme Sympathie mit der empfindenden
 
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