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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0144
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118 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Geleise, findet sich durch Rinnen und Klüfte gehemmt, die von Regen und wilden Gewäs-
sern eingerissen sind; zwar haben wir die schadhaften Stellen vielfach ausgebessert ge-
funden; aber alles ist doch nur geflickt, den Hauptschäden, der mangelhaften Grundle-
gung und unrichtigen Führung der Straße, nicht mehr abzuhelfen. Diese Fehler hat man
bei der Anlegung der neuen Straße zu vermeiden gesucht; dafür aber sind manche Stre-
cken noch gar nicht, oder nur nothdürftig, hergestellt, hier noch eine Auffüllung, dort
eine Absprengung vorzunehmen, und durchaus fühlt man sich durch die frisch aufge-
schütteten Steine in ihrer ganzen noch durch kein Zusammenrütteln gemilderten Schärfe
übel zerstoßen. Daß der Wagen, dem sich meine werthen Leser mit mir haben anvertrau-
en müssen, allen Anforderungen entspräche, will ich gleichfalls nicht behaupten. Den-
noch, wenn unsre wahrheitsgetreuen Berichte immer mehrere Nachfolger auf die neue
Straße ziehen; wenn sich die Überzeugung verbreiten wird, daß einzig sie die Weltstraße
der Zukunft ist, die nur stellenweise vollends fertig gemacht, und hauptsächlich allgemei-
ner befahren zu werden braucht, um auch bequem und angenehm zu werden - während
alle Mühen und Kosten, die auf die Ausbesserung der alten Straße noch verwendet wer-
den, vergeudet und verloren heißen müssen - wenn dieß die Folgen unseres Unterneh-
mens sind: so wird es uns, denke ich, am Ende doch nicht gereuen dürfen, den langen
und beschwerlichen Weg miteinander zurückgelegt zu haben.“
Dass sich N. durch diesen allegorischen Vorstellungskomplex besonders provo-
ziert fühlte, ist auch daran zu erkennen, dass er Strauß’ Formulierung „Welt-
strasse der Zukunft“ in UB I DS mehrfach zitiert. Dabei nimmt N. nicht nur
an der Banalität der Straßenmetaphorik selbst Anstoß, die Strauß in ANG mit
extremer Weitschweifigkeit entfaltet, sondern auch am Begriff der „Zukunft“. -
Für N. wie für Wagner hatte die Vorstellung der „Zukunft“ eine zentrale Bedeu-
tung. Nicht allein die Schlusspartie von Wagners Hauptschrift Oper und Drama
ist ganz auf eine solche „Zukunft“ fokussiert. Auch N. selbst hat das letzte
Kapitel von UB IV WB auf die „Zukunft“ konzentriert. Allerdings lässt er
UB IV WB mit der Prophezeiung enden: „was Wagner diesem Volke
s e i n w i r d: - Etwas, das er uns allen nicht sein kann, nämlich nicht der Seher
einer Zukunft, wie er uns vielleicht erscheinen möchte, sondern der Deuter
und Verklärer einer Vergangenheit“ (KSA 1, 510, 2-6). - Am Anfang des 4. Ka-
pitels von UB I DS verbindet N. den auf David Friedrich Strauß bezogenen Zu-
kunftsdiskurs mit einer polemischen Abgrenzung: „Der Philister als der Stifter
der Religion der Zukunft - das ist der neue Glaube in seiner eindrucksvollsten
Gestalt; der zum Schwärmer gewordene Philister - das ist das unerhörte Phä-
nomen, das unsere deutsche Gegenwart auszeichnet“ (177, 6-10).
176,19-22 Sie sagen uns schliesslich „dass der Wagen, dem sich meine werthen
Leser mit mir haben anvertrauen müssen, allen Anforderungen entspräche, will
ich nicht behaupten“ (p. 367): „durchaus fühlt man sich übel zerstossen.“] Dass
N. auch hier aus Strauß’ ANG zitiert, zeigt das ausführliche Zitat der einschlägi-
gen ANG-Passage in NK176, 11-14. Vgl. auch die Exzerpte aus ANG (KGWIII5/
1), S. 356.
 
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