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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0163
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Stellenkommentar UB I DS 5, KSA 1, S. 187 137

Wagner den Komponisten mit nationalistischer Emphase zu einer Leitfigur des
,deutschen Geistes4 avancieren. - Bezeichnenderweise nimmt N. selbst in der
Geburt der Tragödie schon im „Vorwort an Richard Wagner“ auf dessen „herrli-
che Festschrift über Beethoven“ Bezug (KSA 1, 23, 19), um dann seine eigene
Kulturutopie zu entfalten: Laut N. sollen durch Synthesen zwischen deutscher
und griechischer Kultur die zeitgenössischen Symptome einer degenerierten
Bildung und die „Ermattung der jetzigen Cultur“ (KSA 1, 131, 20) in Deutsch-
land überwunden werden. Von der „Wiedergeburt der Tragödie“ und „des dio-
nysischen Geistes“ (KSA 1, 130, 29-30) im „Feuerzauber der Musik“ Wagners
(KSA 1, 131, 19) erhofft sich N. letztlich „eine Erneuerung und Läuterung des
deutschen Geistes“ (KSA 1, 131, 18).
In UB IV WB transzendiert N. im Hinblick auf Wagner allerdings ausdrück-
lich die (im vorliegenden Kontext von UB I DS so markante) nationale Fokus-
sierung, indem er behauptet, Wagners „Gedanken“ seien „wie die jedes guten
und grossen Deutschen überdeutsch und die Sprache seiner Kunst redet
nicht zu Völkern, sondern zu Menschen. / Aber zu Menschen der Zu-
kunft“ (KSA 1, 505, 2-6). - Aus der späteren Retrospektive auf Die Geburt der
Tragödie im „Versuch einer Selbstkritik“ nimmt N. dann vollends Abstand von
national gefärbten Kulturutopien und verwirft auch seine früheren Vorstellun-
gen von einer Synthese deutscher und hellenischer Kultur: Weil er nun sogar
ausgerechnet in „der jetzigen deutschen Musik [...] die ungriechischeste
aller möglichen Kunstformen“ erblickt (KSA 1, 20, 22-24), traut er ihr auch kein
zukunftsweisendes Vermittlungspotential mehr zu. Eine im Sinne des obigen
Lemmas auf den „germanischen Genius“ fokussierte und von da aus auf Syn-
thesen zielende Kulturutopie revidiert N. also im nachträglichen Rückblick auf
sein Erstlingswerk.
Durch seine spätere Abkehr von nationalen Prämissen kommt N. den Auffas-
sungen Schopenhauers näher als im vorliegenden Kontext von UB I DS. Denn
Schopenhauer betont im Kapitel 21 „Ueber Gelehrsamkeit und Gelehrte“ seiner
Parerga und Paralipomena II, „daß der Patriotismus, wenn er im Reiche der
Wissenschaften sich geltend machen will, ein schmutziger Geselle ist, den man
hinauswerfen soll. Denn was kann impertinenter seyn, als da, wo das rein und
allgemein Menschliche betrieben wird und wo Wahrheit, Klarheit und Schön-
heit allein gelten sollen, seine Vorliebe für die Nation, welcher die eigene wer-
the Person gerade angehört, in die Waagschale legen zu wollen und nun, aus
solcher Rücksicht, bald der Wahrheit Gewalt anzuthun, bald gegen die großen
Geister fremder Nationen ungerecht zu seyn, um die geringeren der eigenen
herauszustreichen“ (PP II, Kap. 21, § 255, Hü 519). - N. selbst akzentuiert eben-
falls trans- und internationale Ausrichtungen, wenn er in UB IIISE über Scho-
penhauer schreibt, er sei durch „keine patriotische Einklemmung“ verbogen
 
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