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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0173
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Stellenkommentar UB I DS 6, KSA 1, S. 191 147

als Notwendigkeit für den rational denkenden, gebildeten Menschen zu erwei-
sen. Schleiermacher vertrat die Auffassung, die Religiosität als Gefühl absolu-
ter Abhängigkeit gehöre ebenso zum Menschsein wie eine deduktiv verfahren-
de Rationalität und ein an moralischen Prinzipien orientiertes Handeln.
191, 15 in „schlechthiniger Abhängigkeit“] Vgl. dazu den Kontext in Strauß’
ANG 132, 1-8: „Bekanntlich ist es Schleiermacher gewesen, der in Betreff der
Religion dieser Forderung genugzutun suchte. Das Gemeinsame aller noch so
verschiedenen Aeußerungen der Frömmigkeit, sagte er, mithin das Wesen der
Religion, bestehe darin, daß wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig
bewußt seien, und das Woher dieser Abhängigkeit, d. h. dasjenige, wovon wir
uns in dieser Art abhängig fühlen, nennen wir Gott.“ - Wie Strauß bezieht sich
hier auch N. auf die berühmt gewordene Formulierung von Friedrich Schleier-
macher, der die ,schlechthinige Abhängigkeit4 des Menschen betont. In seinem
zweibändigen Werk Der christliche Glaube (1821/22) finden sich zahlreiche Be-
lege für diese geradezu topologische Aussage: vgl. Schleiermacher: Der christ-
liche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammen-
hänge dargestellt (2. Ausgabe, Bd. 1, 1830, 22-24, 29-31, 49, 78, 189, 196, 199,
200, 214, 244, 248, 253-255, 264, 273, 276, 278, 290, 308, 320, 381 u. v. m.). Laut
Schleiermacher „kann niemand bezweifeln, daß auch die Wirkungen der freien
Handlungen vermöge der schlechthinigen Abhängigkeit erfolgen. Und ist fer-
ner was das begleitende Selbstbewußtsein betrifft gewiß, daß wir des schlecht-
hinigen Abhängigkeitsgefühls nur als freie selbstthätige fähig sind [...]: so muß
auch in jedem frommen Moment freier Selbstthätigkeit das Selbstbewußtsein
aus beidem zusammengesezt sein dem schlechthinigen Abhängigkeitsgefühl
und dem beziehungsweisigen Freiheitsgefühl“ (ebd., 273). Schon in einer frühe-
ren Textpassage desselben Werkes statuiert Schleiermacher: „Ohne alles Frei-
heitsgefühl aber wäre ein schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl nicht möglich.
[...] Wenn aber schlechthinige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott in unserem
Saze gleichgestellt wird: so ist dies so zu verstehen, daß eben das in diesem
Selbstbewußtsein mit gesezte Woher unseres empfänglichen und selbst-
thätigen Daseins durch den Ausdrukk Gott bezeichnet werden soll“ (ebd., 22).
Da Strauß bis zu seiner Schrift ANG stets Vorbehalte gegen supranaturalis-
tische Tendenzen bei Schleiermacher formuliert hatte, sieht sich N. dadurch
provoziert, dass Strauß in ANG nun affirmativ auf Schleiermachers umstritte-
nes Konzept „schlechthiniger Abhängigkeit“ Bezug nimmt. So geht er in
UB I DS an späterer Stelle nochmals auf Strauß’ Schleiermacher-Adaptation ein
und zitiert aus ANG eine Passage, in der wörtlich von „schlechthiniger Abhän-
gigkeit“ die Rede ist (225, 3, 5-6). Vgl. dazu NK224, 32 - 225, 8. Vgl. auch
Exzerpte aus ANG (KGWIII5/1), S. 352. - In Menschliches, Allzumenschliches II
spielt N. im 10. Text „Der Historie verfallen“ auf Schleiermacher an, in-
 
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