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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0174
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148 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

dem er die „Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysi-
ker“ kritisiert (KSA 2, 384, 17-18). Zu dieser Aussage im Kontext von N.s anti-
idealistischem Aufklärungspostulat und seiner Kritik an der Metaphysik vgl.
Neymeyr 2012c, 74-77. Mit der satirischen Bezugnahme auf den Namen ,Schlei-
ermacher4 in MA II10 schließt N. an eine in der Schleiermacher-Rezeption zu-
vor bereits vorhandene Tendenz an; vgl. etwa die Spottverse von August Wil-
helm Schlegel: „Der nackten Wahrheit Schleier machen, Ist kluger Theologen
Amt, Und Schleiermacher sind bei so bewandten Sachen Die Meister der Dog-
matik insgesamt“ (Schlegel, August Wilhelm von: Sämmtliche Werke, hg. von
Eduard Böcking, Bd. 2, 1846, 223).
191,16-17 seine Lehre vom Universum, die Betrachtungsart der Dinge sub specie
biennii] Diese ironische Variation von Spinozas lateinischer Formulierung „sub
specie aeternitatis“ (Ethica, V 29 ff.) bedeutet: unter dem Blickwinkel eines
Jahrzweits4. Indem N. hier den Kontrast zwischen einem Zeitraum von nur
zwei Jahren und der kosmologischen Perspektive auf das unermessliche „Uni-
versum“ inszeniert, verstärkt er den polemischen Gehalt seiner Aussage. -
Analoge lateinische Formulierungen finden sich in einem nachgelassenen No-
tat, in dem sich N. ebenfalls kritisch gegen Strauß wendet: „Nun hat er sich
bemüht, Hegel und das Theologische möglichst zu beseitigen: umsonst. Der
erste zeigt sich in der platt optimistischen Weltbetrachtung mit dem preußi-
schen Staate als Zielpunkt der Weltgeschichte, das zweite in den gereizten In-
vektiven gegen das Christenthum. Er hat keinen Halt und wirft sich dem Staate
und dem Erfolg an’s Herz; sein ganzes Denken ist nicht sub specie aeternitatis,
sondern decennii vel biennii“ (NL 1873, TI [30], KSA 7, 595-596).
Bereits in der Geburt der Tragödie gebraucht N. eine lateinische Zeitbestim-
mung: „Alles sub specie saeculi, der Jetztzeit4“ (KSA 1, 149, 2). Den Ausdruck
„Jetztzeit“ übernimmt N. auch an mehreren Stellen von UBI DS (vgl. 221, 7;
223, 2-4; 228,1) explizit von Schopenhauer, der ihn wiederholt in polemischem
Kontext verwendet. N. gebraucht den Begriff vor allem in seiner Basler Zeit,
also in der frühen Werkphase. Vgl. dazu NK 221, 4-8; NK 223, 2-4; NK TTJ, 32 -
228,1. Vgl. außerdem: NK 166, 6. - Schopenhauer übt in den Parerga und Para-
lipomena II energisch Kritik an „der gegenwärtigen, geistig impotenten und
sich durch die Verehrung des Schlechten in jeder Gattung auszeichnenden Pe-
riode“, die sich „mit dem selbstfabricirten, so prätentiösen, wie kakophoni-
schen Worte Jetztzeit4 bezeichnet, als wäre ihr Jetzt [...] das Jetzt, welches he-
ranzubringen alle anderen Jetzt allein dagewesen“ (PPII, Kap. 11, § 146,
Hü 304). - In UB III SE entfaltet N. kulturkritische Reflexionen über den Status
der Gegenwart auch mit einer imaginären Retrospektive von der Zukunft aus.
Zum Ideal der ,Unzeitgemäßheit4 in diesen Argumentationskontexten vgl. z. B.
 
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