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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0179
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Stellenkommentar UB I DS 6, KSA 1, S. 192-193 153

sche[n] Heiligung“ exponiert, spielt er auf zentrale Positionen Schopenhauers
an, die vor allem das Vierte Buch der Welt als Wille und Vorstellung bestimmen.
Schopenhauers Auffassung zufolge ist die Erkenntnis normalerweise als bloßes
Instrument dem Dienst des Willens unterworfen. Nur dann, wenn sich der In-
tellekt von seiner voluntativen Funktion befreit, sind die Voraussetzungen für
die Genese des Künstlers, des Philosophen und des Heiligen gegeben: „Die
ächte philosophische Betrachtungsweise der Welt, d. h. diejenige, welche uns
ihr inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Erscheinung hinaus führt,
ist gerade die, welche [...] die Ideen [...] zum Gegenstände hat. Von solcher
Erkenntniß geht, wie die Kunst, so auch die Philosophie aus, ja [...] auch dieje-
nige Stimmung des Gemüthes, welche allein zur wahren Heiligkeit und zur
Erlösung von der Welt führt“ (WWV I, § 53, Hü 323). Während dem Künstler die
„reine, wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt“ vorübergehend zum
„Zweck an sich“ wird, avanciert sie „bei dem zur Resignation gelangten Heili-
gen“ dauerhaft zum „Quietiv des Willens“ und „erlöst ihn [...] vom Leben“
(WWV I, § 2, Hü 316). Wenn die Erkenntnis „auf den Willen zurückwirkt“, kann
„die Selbstaufhebung desselben eintreten“, also „die Resignation, welche das
letzte Ziel, ja, das innerste Wesen aller Tugend und Heiligkeit, und die Erlö-
sung von der Welt ist“ (WWV I, § 27, Hü 181-182). Zum systematischen Span-
nungsfeld zwischen ästhetischen und ethischen Konzepten bei Schopenhauer
vgl. Neymeyr 1996a, 409-424.
Schopenhauers Vorstellung, dass der Mensch durch die Abkehr vom Wil-
len zum Leben und die Suspendierung des principium individuationis „zum
Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit
und gänzlichen Willenslosigkeit“ gelangen (WWV I, § 68, Hü 448) und da-
durch das Leiden überwinden kann, ist von der indischen Philosophie nach-
haltig beeinflusst. Zugleich ergeben sich hier aber auch Affinitäten zum Chris-
tentum: „Bei weiter gebildetem Christenthum sehn wir nun jenen asketischen
Keim sich zur vollen Blüthe entfalten, in den Schriften der Christlichen Heiligen
und Mystiker. Diese predigen neben der reinsten Liebe auch völlige Resigna-
tion, freiwillige gänzliche Armuth, wahre Gelassenheit, vollkommene Gleich-
gültigkeit gegen alle weltlichen Dinge, Absterben dem eigenen Willen und Wie-
dergeburt in Gott, gänzliches Vergessen der eigenen Person und Versenken in
die Anschauung Gottes“ (WWV I, § 68, Hü 457). Für seine eigene Philosophie
erhebt Schopenhauer den Anspruch: „Vielleicht ist also hier zum ersten Male,
abstrakt und rein von allem Mythischen, das innere Wesen der Heiligkeit,
Selbstverleugnung, Ertödtung des Eigenwillens, Askesis, ausgesprochen als
Verneinung des Willens zum Leben, eintretend, nachdem ihm die
vollendete Erkenntniß seines eigenen Wesens zum Quietiv alles Wollens ge-
worden“ (WWV I, § 68, Hü 452-453).
 
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