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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0187
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Stellenkommentar UB I DS 7, KSA 1, S. 194 161

„Was Thukydides über den Staat denkt“. Der Staatsauffassung und
dem Menschenbild des Thukydides schreibt N. besondere Bedeutung zu, und
zwar gerade in „Buch III cap. 84“, in dem „Thukydides von seiner innersten
Gesinnung redet, wo er sagt, was an der Menschennatur ist!“ (NL 1875, 12 [21],
KSA 8, 256). N. betont hier vor allem die Disposition der Menschen zu Ressenti-
ment, Neid und Rachegefühlen: „Sie wollen lieber Rache als Recht, lieber ego-
istischen Gewinn an Stelle einer Lage, wo man ihnen keinen Schaden thut“
(NL 1875,12 [21], KSA 8, 256). „Hier hat Thukydides seine Theorie vom Staate
gegeben: und auch gesagt, was geschehen muß, sobald der Staat aufhört -
gegenseitige Zerfleischung und Auslassung aller Affekte. Da tritt die menschli-
che Natur rein hervor, durch den Staat ist sie im Zaum gehalten. [...] Im Staate
herrscht Recht, nicht Rache, wird jeder geschützt vor Unrecht von dem ande-
ren, und die Mißgunst hat keinen schädigenden Charakter. Trotzdem werfen
sie ihn um, sie vergessen ihren eigenen Vortheil: so blind sind sie in ihrer
Leidenschaft!“ (NL 1875, 12 [21], KSA 8, 257).
Bei der Bezugnahme auf die Theorie Darwins in UB I DS orientiert sich N.
also an der philosophischen Tradition von Anthropologie und Staatstheorie.
Er schreibt Hobbes einen „innerlich unerschrockenen“ Sinn zu (194, 33) und
betrachtet ihn im Rahmen seiner Polemik gegen Strauß als Vorläufer einer
„ächten und ernst durchgeführten Darwinistischen Ethik“ (195, 4). - Später
formuliert N. im Text 252 von Jenseits von Gut und Böse jedoch eine radikale
Kritik an englischen Philosophen, die Hobbes mit einschließt: „Das ist keine
philosophische Rasse - diese Engländer: Bacon bedeutet einen Angriff auf
den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, Hume und Locke eine Erniedri-
gung und Werth-Minderung des Begriffs ,Philosoph4 für mehr als ein Jahrhun-
dert“ (KSA 5, 195, 7-11). Und im Text 294 distanziert sich N. unter dem Titel
„Das olympische Laster“ ausdrücklich von Hobbes, indem er ihm vor-
wirft, er habe das Lachen verurteilt (KSA 5, 236, 19-24).
194, 33 Hobbes] Der englische Philosoph und Staatstheoretiker Thomas Hob-
bes (1588-1679) zählt zu den bedeutendsten Vorläufern der europäischen Auf-
klärung; er gilt als Begründer des aufgeklärten Absolutismus. Zu den Prämis-
sen seiner materialistischen Anthropologie gehören die Überzeugung von der
Determination des menschlichen Willens, die Annahme des Selbsterhaltungs-
triebs als Basis menschlichen Handelns und die Idee einer ursprünglichen
Gleichheit aller Menschen im Naturzustand. Nach Hobbes’ Auffassung kann
der durch Furcht, Unsicherheit und den Kampf aller gegen alle (bellum omni-
um contra omnes) bestimmte Naturzustand erst durch die Staatsgründung
überwunden werden, die den Verzicht auf das Recht des stärkeren Individu-
ums zugunsten einer verbindlichen Rechtsgewalt des Souveräns einschließt.
Durch sein staatsphilosophisches Hauptwerk Leviathan (1651) gilt Hobbes ne-
 
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