Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0193
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar UB I DS 7, KSA 1, S. 197 167

30-34). - Im vorliegenden Kontext von UB I DS versucht N. am gedanklichen
Duktus von David Friedrich Strauß Inkonsequenzen und Widersprüche aufzu-
zeigen. Im Vordergrund steht dabei die Problematik moralisierender teleologi-
scher Weltdeutungen bei Strauß, die nach N.s Ansicht einen anthropomorphi-
schen Charakter haben und in einer religiös oder metaphysisch modellierten
„Kosmodicee“ (197, 25) Ausdruck finden. N. hält sie für inkompatibel mit dem
Objektivitätsanspruch eines neutralen Naturforschers, der sich darum bemüht,
subjektive Wertungen zu vermeiden.
197, 17-21 An eben dem Punkte aber, an welchem der ehrliche Naturforscher
resignirt, „reagirt“ Strauss, um uns mit seinen Federn zu schmücken, „religiös“
und verfährt naturwissenschaftlich und wissentlich unehrlich] Ähnlich formuliert
N. in UB I DS bereits an früherer Stelle, wo er ebenfalls auf Aussagen von
Strauß zurückgreift: „Jetzt,reagirt4 Strauss ,religiös4, das heisst, er schlägt wie-
der auf Schopenhauer los44 (189, 24-25). In beiden Textpartien rekurriert N. auf
Strauß’ ANG 143, 19-20: „Unser Gefühl für das All reagirt, wenn es verletzt
wird, geradezu religiös.“ - Vgl. Exzerpte aus ANG (KGWIII5/1), S. 353.
197, 24-26 Er bedarf also einer vollständigen Kosmodicee und steht jetzt im
Nachtheil gegen den, dem es nur um eine Theodicee zu thun ist] Mit dem auf
Leibniz zurückgehenden Begriff,Theodizee4, der auf den altgriechischen Wör-
tern 0Eoq (Gott) und öucq (Gerechtigkeit) basiert, sind die vor allem seit der
Epoche der Aufklärung unternommenen Versuche zur Rechtfertigung Gottes
gemeint. Zur Herausforderung werden sie angesichts der von Gott zugelasse-
nen negativen Erfahrungen des Leidens und des Bösen in der Welt, die sich mit
der Vorstellung eines allmächtigen und gütigen Gottes schwerlich in Einklang
bringen lassen. Als prominentes Werk, das den Versuch einer Theodizee unter-
nimmt, sind Leibniz’ Essais de Theodicee (1710) zu nennen. Auf Leibniz’ opti-
mistische These von der Welt als der ,besten aller möglichen Welten4 antwortet
Voltaire 1759 mit seiner satirischen Novelle Candide ou l’optimisme (Candide
oder der Optimismus).
Der Begriff ,Kosmodizee4 ist eine - laut N. bereits von Erwin Rohde verwen-
dete (KSB 3, Nr. 201, S. 294) - Analogiebildung zum etablierten Begriff,Theodi-
zee4. Auch Julius Bahnsen gebrauchte den Begriff bereits vor der Publikation
von N.s UB I DS in seiner ,,kritische[n] Besprechung des Hegel-Hartmann’schen
Evolutionismus aus Schopenhauer’schen Principien“ (Bahnsen 1872, 8,14, 21).
N. exponiert mit dem Begriff „Kosmodicee“ eine Problematik in Strauß’ Kon-
zept: Ausgehend von der Rechtfertigung Gottes, erweitert sich die Problematik
der Legitimation auf den gesamten Kosmos, wenn ein persönlich verantwortli-
cher Gott in Zweifel gezogen wird. David Friedrich Strauß nimmt eine sinnstif-
tende Ordnung des Universums an (vgl. ANG 111-116). N. verwirft diese Strafe-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften