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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0199
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Stellenkommentar UB I DS 7, KSA 1, S. 199 173

einer sehr breiten Basis in einen gar spitzen Gipfel aus“ (PP I, Hü 209-210). Als
Fazit exponiert er dann eine antidemokratische Pointe: „Und wenn es dem Pö-
bel und Gesindel, welches nichts über sich dulden will, auch gelänge, alle an-
dern Aristokratien umzustoßen; so müßte es diese doch bestehn lassen, - und
soll keinen Dank dafür haben: denn die ist so ganz eigentlich ,von Gottes Gna-
den/“ (PP I, Hü 210.) Zu den Korrespondenzen zwischen der Fabrik- und Skla-
ven-Metaphorik bei Schopenhauer und N. vgl. NK 202, 24-28. Zu den spezifi-
schen Ambivalenzen in den Genie-Konzepten von Schopenhauer und N. vgl.
Neymeyr 1996a, 265-286 (zur systematischen Problematik genialer Abnormi-
tät4 in Schopenhauers Willensmetaphysik vgl. ebd., 67-85).
Im Hinblick auf seinen Begriff von Genie und Philister orientiert sich N. an
den Auffassungen Schopenhauers, der den ,Philister4 in seinen Aphorismen zur
Lebensweisheit (vgl. Kapitel II „Von Dem, was Einer ist“) als einen Menschen
„ohne geistige Bedürfnisse“ und infolgedessen auch „ohne geistige Ge-
nüsse“ definiert (PP I, Hü 365): „Kein Drang nach Erkenntniß und Einsicht, um
ihrer selbst Willen, belebt sein Daseyn, auch keiner nach eigentlich ästheti-
schen Genüssen [...]. Wirkliche Genüsse für ihn sind allein die sinnlichen:
durch diese hält er sich schadlos“ (PP I, Hü 365). Menschen von überlegener
Intellektualität erregen „seinen Widerwillen, ja, seinen Haß [...]; weil er dabei
nur ein lästiges Gefühl von Inferiorität, und dazu einen dumpfen, heimlichen
Neid verspürt, den er aufs Sorgfältigste versteckt“ (PP I, Hü 366). Vgl. noch
weitere Belege zum ,Philister4 bei Schopenhauer: WWVII, Kap. 38, Hü 507;
PP I, Hü 384; PP II, Kap. 1, § 21, Hü 20; PP II, Kap. 23, § 283, Hü 567. - Die cha-
rakteristische Verbindung von geistiger Mediokrität mit Phlegma, Missgunst
und Ressentiment, durch die Schopenhauer den Philister gekennzeichnet
sieht, weist auf N.s Definition des ,Bildungsphilisters4 in UB I DS (165, 6) vo-
raus. Allerdings betont N. die bornierte Selbstzufriedenheit des Philisters noch
stärker als Schopenhauer. In diesem Sinne polemisiert er gegen David Fried-
rich Strauß als den Prototyp eines Bildungsphilisters, den er nicht nur in
UB I DS (165, 6), sondern auch in UB IIISE thematisiert. Vgl. dazu NK 165, 6
sowie NK 352, TI und NK 401, 24-25. Zuvor geht N. bereits in nachgelassenen
Notaten aus der Entstehungszeit von UB I DS auf die Problematik des Philisters
ein (vgl. NL 1873, TJ [52], KSA 7, 602 und NL 1873, TJ [56], KSA 7, 603). Seine
Kritik gilt insbesondere dem „Philister, der sich als Genie fühlt oder gebärdet“
(NL 1873, TI [46], KSA 7, 600). Dass N. dabei konkret David Friedrich Strauß im
Visier hat, geht aus einem der anschließenden Notate hervor (vgl. NL 1873, TI
[49], KSA 7, 601). Schon in seinem Frühwerk verbindet N. mit der Polemik ge-
gen die Banalität des bloßen Philisters wiederholt den programmatischen Ap-
pell an seine Zeitgenossen, sich für die „Erzeugung des Genius“ zu engagieren.
Einschlägige Textbelege dazu finden sich vor allem in UB III SE (vgl. KSA 1,
358, 12; 386, 21-22; 387, 13-14 sowie dazu NK 386, 21-22).
 
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