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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0205
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Stellenkommentar UB I DS 8, KSA 1, S. 201-202 179

Das Verdienst des Positivismus besteht in einer Neuorientierung der Wis-
senschaften durch die Abkehr von abstraktem Theoretisieren und durch die
Hinwendung zur Tatsachenforschung. Problematisch erscheint allerdings eine
Reduktion wissenschaftlicher Gegenstände auf das empirisch Wahrnehmbare
im Sinne des Prinzips ,esse est percipi4. - Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts entfaltete der Positivismus über die experimentellen (vgl. NK 396, 24)
Naturwissenschaften hinaus zugleich große Wirkung in den Geschichts- und
Kulturwissenschaften und damit auch im Historismus, dessen Problematik N.
in UB II HL eingehend reflektiert. Nach dem Vorbild der Naturwissenschaften
erhob man in den Geisteswissenschaften nun ebenfalls einen Anspruch auf
Objektivität und akribische Präzision. Besondere Leistungen wurden seither
durch das Engagement der Positivisten beim Sammeln und Erschließen von
Materialien erbracht, etwa durch das Archivieren und Edieren historischer
Quellen oder literarischer Dokumente sowie durch biographische, historische
und lexikographische Forschungen. Probleme entstanden allerdings durch die
mitunter nicht hinreichend reflektierte Adaptation naturwissenschaftlicher Me-
thoden und Prinzipien sowie durch eine Aufhäufung unsortierter und zuse-
hends unüberschaubar werdender Datenmengen. Dies gilt insbesondere für
den Historismus, dessen Problematik N. in UB II HL zum Thema macht. Später
beeinflusste der Positivismus mit seinen anti-metaphysischen Prämissen und
seiner empiristischen Grundorientierung auch den Logischen Empirismus und
den Kritischen Rationalismus, der in den 1960er Jahren in den sogenannten
,Positivismusstreit‘ mit den Vertretern der Kritischen Theorie der Frankfurter
Schule involviert war.
202,11 - 205, 9 Es liegt ja im Wesen des wissenschaftlichen Menschen [...] ein
rechtes Paradoxon: [...] Denn die einzige Form der Kultur, mit der sich das ent-
zündete Auge und das abgestumpfte Denk-Organ des gelehrten Arbeiter-Standes
abgeben mag, ist eben jene Philister-Kultur, deren Evangelium Strauss ver-
kündet hat.] Diese Textpassage bietet eine überarbeitete Version der Wissen-
schaftskritik, die N. mit analogem Inhalt bereits in einem seiner nachgelasse-
nen Notate aus der Entstehungszeit von UB I DS entfaltet (NL 1873, 28 [1],
KSA 7, 613-615). Dass die direkte problemorientierte Ansprache an die zeitge-
nössischen Gelehrten im Entwurf noch einen höheren Stellenwert hat als dann
in UB I DS, wirkt sich auch auf bestimmte Aspekte der Problemdiagnose aus:
Während N. im Notat „die Uniformität eures eigentlichen Lebens und Den-
kens“ konstatiert und beklagt, „wie dürftig und arm die eigentliche Welterfah-
rung, wie büchermäßig euer Urtheilen ist“ (NL 1873, 28 [1], KSA 7, 614), erklärt
er in UB I DS mit konkreter Bezugnahme auf David Friedrich Strauß: „Wenn
man Strauss über die Lebensfragen reden hört, [...] so erschreckt er uns durch
den Mangel aller wirklichen Erfahrung, alles ursprünglichen Hineinsehens in
 
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