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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0208
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182 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

auf den privaten Bereich (vgl. Manfred Fuhrmann 1960, 486-489, 495; Franz
Hubert Rohling 2007, 208). Vgl. dazu z. B. Ciceros Epistulae ad Familiäres (I, 9,
21): „[...] cum omnibus nobis in administranda re publica propositum esse de-
beat, id quod a me saepissime dictum est, cum dignitate otium“. (Wir alle müs-
sen uns in der Politik, was ich sehr häufig gesagt habe, eine Muße mit Würde
zum Ziel setzen.) Dem Ethos eines ,otium cum dignitate4, einer Muße mit Wür-
de, stellt Cicero die Muße ohne Würde, das ,otium sine dignitate4, gegenüber.
203, 9-14 Nun meint Pascal überhaupt, dass die Menschen so angelegentlich
ihre Geschäfte und ihre Wissenschaften betrieben, um nur damit den wichtigsten
Fragen zu entfliehen, die jede Einsamkeit, jede wirkliche Musse ihnen aufdringen
würde, eben jenen Fragen nach dem Warum, Woher, Wohin.] N. zitiert hier nicht
wörtlich, aber sinngemäß aus dem Kapitel III „Misere de l’homme sans Dien“
in Blaise Pascals (1669 postum erschienenen) Pensees sur la religion et sur quel-
ques autres sujets (Gedanken über die Religion und über einige andere The-
men): „Si faut-il voir si cette belle Philosophie n'a rien acquis de certain par
un travail si long et si tendu, peut-etre qu'au moins Tarne se connaitra soi-
meme. Ecoutons les regents du monde sur ce sujet. Qu'ont-ils pense de sa sub-
stance? 395. Ont-ils ete plus heureux ä la loger? 395. Qu'ont-ils trouve de son
origine, de sa duree et de son depart?“ - Der französische Mathematiker, Physi-
ker und christliche Philosoph Blaise Pascal (1623-1662) zog sich nach einem
religiösen Erweckungserlebnis wiederholt in die Einsamkeit zurück und schloß
sich den jansenistischen,Einsiedlern4 (solitaires) an, einer religiös-moralischen
Reformbewegung, die sich im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich ausbildete
und programmatisch auf spirituelle Innerlichkeit und ein Ethos der Askese
ausgerichtet war. Die von Pascal ausgearbeiteten philosophischen Konzepte
gelten einer Apologie des Christentums und propagieren eine christliche Ethik.
203, 17 Brot zu verdienen oder Ehrenstellen zu erjagen] Durch diese primäre
Intention der Gelehrten sieht N. die zeitgenössische „Wissenschaft44 geradezu
depraviert, so dass sie „nicht zur Kultur“ führt, sondern stattdessen „zur Bar-
barei“ (203, 30-31). Mit seiner kritischen Einschätzung der Gelehrten und ihrer
pragmatischen Motivation bezieht sich N. auf Aussagen in der von Schiller am
26. Mai 1789 als Professor an der Universität Jena gehaltenen Antrittsvorlesung
Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Hier kontras-
tiert Schiller den „Brotgelehrte[n]44 mit dem „philosophische[n] Kopf“ (vgl.
Schiller: FA, Bd. 6, 412) und antizipiert damit in der betreffenden Textpassage
(vgl. ebd., 412-416) bereits die fundamentale Opposition zwischen den bloßen
Universitätsphilosophen und den genuinen, nach Wahrheit strebenden Phi-
losophen, die Schopenhauer später in seiner polemischen Schrift Ueber die
Universitäts-Philosophie exponiert. N. schließt in UB III SE an diese Auffas-
 
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