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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0215
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Stellenkommentar UB I DS 8, KSA 1, S. 207-208 189

kalypse an: Hier bekämpft „das Tier, das aus dem Abgrund aufsteigt“ (Kapi-
tel 11, 7), im endzeitlichen Kampf das Göttliche.
208, 24-26 Wer dieses wenn nicht weise, so doch jedenfalls kluge Maasshalten
und diese mediocritas des Muthes eine aristotelische Tugend nennen wollte, wür-
de freilich im Irrthum sein] N. inszeniert hier ein Wortspiel mit dem griechi-
schen Begriff peooTqq (,mesotes‘: Mitte) und seiner zwar tradierten, aber nicht
korrekten lateinischen Übersetzung ,mediocritas4 (richtig wäre ,medietas‘).
Aristoteles verwendet den Begriff im 2. Buch seiner Nikomachischen Ethik posi-
tiv. Indem N. von einer „mediocritas des Muthes“ spricht, lässt er den Begriff
,mediocritas4 zwischen seiner positiven und seiner negativen Komponente
changieren: zwischen der rechten Mitte einerseits und einer Beschränktheit
durch Mittelmäßigkeit andererseits. - Im vorliegenden Kontext argumentiert
N. ähnlich wie Kant bei seiner Kritik an der Aristotelischen Ethik (vgl. Eth. Nie.
1106 a), indem er die Ansicht, „Muth“ sei „die Mitte zwischen zwei Fehlern“,
ausdrücklich als „Irrthum“ bezeichnet (208, 26-27). Aristoteles hatte der Ju-
gend4 eine Mittelposition zwischen jeweils zwei ,Lastern4 zugeschrieben, die
konträre Extreme implizieren, also ein Übermaß und einen Mangel. (In diesem
Sinne steht die Jugend4 der Tapferkeit laut Aristoteles zwischen den ,Lastern4
der Tollkühnheit und der Feigheit; die Tugend der Freigiebigkeit bildet die ide-
ale Mitte zwischen Verschwendung und Geiz.) - Im vorliegenden Kontext setzt
N. bei seiner Kritik an Strauß ohnehin einen anderen Akzent, wenn er ihm
Feigheit (208,16) und eine bloß inszenierte Courage vorwirft. Sein Fazit lautet:
„jener Muth ist nicht die Mitte zwischen zwei Fehlern, sondern zwischen einer
Tugend und einem Fehler - und in dieser Mitte, zwischen Tugend und Fehler,
liegen alle Eigenschaften des Philisters“ (208, 27-30).
Immanuel Kant kritisiert das Prinzip der Mesotes in der Ethik des Aristote-
les, indem er eine Tugendethik ,des Mittleren4 prinzipiell ablehnt und für quali-
tativ statt quantitativ ausgerichtete moralische Urteilskriterien plädiert. In seiner
Schrift Die Metaphysik der Sitten erklärt Kant im Zweiten Teil „Metaphysische
Anfangsgründe der Tugendlehre“ (im Kapitel XIII. „Allgemeine Grundsätze der
Metaphysik der Sitten in Behandlung einer reinen Tugendlehre“): „Der Unter-
schied der Tugend vom Laster kann nie in Graden der Befolgung gewisser
Maximen, sondern muß allein in der specifischen Qualität derselben (dem
Verhältniß zum Gesetz) gesucht werden; mit andern Worten, der belobte
Grundsatz (des Aristoteles), die Tugend in dem Mittleren zwischen zwei Las-
tern zu setzen, ist falsch“ (AA 6, 404). Auf die Aristotelische ,mesotes4 zwi-
schen Verschwendung und Geiz geht Kant hier in der zugehörigen Anmerkung
konkret ein.
 
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