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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0218
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192 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

handlung De Laertii Diogenis fontibus I/II, die in der Zeitschrift „Rheinisches
Museum“ erschien: ebd., 1868, 632-653 (vgl. KGW II1, 75-104) und ebd., 1869,
181-228 (vgl. KGW II1,104-167). Damit konzentriert sich N. auf eine der Haupt-
quellen des Stoizismus. Später erklärt er in UBIII SE ausdrücklich, er „lese
Laertius Diogenes lieber als Zeller“ (KSA 1, 417, 14).
Die Stoiker betrachten den Logos als das dynamische Ordnungsprinzip ei-
ner universell waltenden Vernunft, die nicht nur den Menschen bestimmt, son-
dern den gesamten Kosmos. Diogenes Laertius stellt die griechische Stoa im
7. Buch seines rezeptionsgeschichtlich bedeutsamen Werkes Leben und Mei-
nungen berühmter Philosophen dar und teilt in diesem Kontext auch einen der
Fundamentalsätze Zenons mit. Er lautet: „Das allgemeingültige Gesetz [das Na-
turgesetz], welches die richtige Vernunft ist, durchwirkt alles.“ (Diogenes Laer-
tius VII88: ö vopoq ö Koivoq, oonep eot'i ö öpOoq Aoyoq, öiöt ndvTtüv Epxopcvoq.)
Der Logos, der nach stoischer Überzeugung den Kosmos bestimmt, ist insofern
zugleich Nomos (Naturgesetz). In der lateinischen Textversion wird ,Logos4 mit
,ratio‘ übersetzt („recta ratio“). Im vorliegenden Kontext greift N. den zentralen
Satz aus der Naturphilosophie der Stoa auf, indem er von dem stoischen Glau-
ben „an das All und an die Vernünftigkeit des Alls“ spricht.
In den Unzeitgemässen Betrachtungen bezieht sich N. mehrfach explizit
oder implizit auf die Stoa, die zu den einflussreichsten Philosophenschulen
der Antike zählte. Vgl. z. B. NK 261,11-18 (UB II HL), NK 351, 2-5 (UB III SE) und
NK 506, 29 - 507, 3 (UB IV WB). Wenn N. in UB IV WB behauptet, „dass die
Leidenschaft besser ist, als der Stoicismus und die Heuchelei“ (KSA 1, 506, 29-
30), dann rekurriert er auf die stoische Ethik, die in der umfassenden Wir-
kungsgeschichte des Stoizismus maßgebliche Bedeutung hat. In der Auseinan-
dersetzung mit den Wechselfällen des Lebens, vor allem mit Leiden und Tod,
propagieren die Stoiker das Ethos der Seelenruhe (tranquillitas animi) durch
Freiheit von Affekten (Apatheia): Eine Haltung der Gelassenheit und innere
Unabhängigkeit von existentiellen Bedrängnissen soll der Mensch mithilfe ei-
ner vernunftgeleiteten Selbstbeherrschung erringen, die ihn zugleich in eine
universelle Harmonie mit der „Vernünftigkeit des Alls“ (211, 33) bringen
kann. - Wiederholt kritisiert N. in seinen Schriften eine Erstarrung in stoischer
Apatheia und den Heroismus der Stoiker, der ihm als maskenhaft-unauthenti-
sche Attitüde erscheint. Außerdem beanstandet er den Verlust von Sensibilität
und emotionaler Erlebnisintensität, den er mit der ,Unerschütterlichkeit4 der
Seele verbunden sieht. Schon in Menschliches, Allzumenschliches II schreibt er
dem Stoizismus eine Perversion zu: Die stoische Erstarrung „verkehrt endlich
die Natur“ (KSA 2, 471, 4). In Jenseits von Gut und Böse kritisiert N. mit einer
subversiven Argumentation das stoische Prinzip naturgemäßen Lebens4 (KSA 5,
21, 25 - 22, 28). Allerdings gewinnt er dem stoischen Ethos der Selbstdisziplin,
 
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