Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0226
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
200 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

tament erfüllt. Vgl. z. B. Lukas 21, 22: „daß erfüllet werde alles, was geschrieben
steht“. N. karikiert damit den auf eine Synthese der Qualitäten Lessings und
Voltaires zielenden hybriden Gestus, indem er die Anmaßung, die er Strauß
vorwirft, durch die Bibel-Anspielung noch steigert. (Zu Voltaire und N.s Einstel-
lung zu ihm vgl. NK 214, 20-27.)
Ironisch verfährt N. hier, indem er die beschriebene Charakterkonstitution
suggestiv mit einer Aura auflädt, dabei jedoch zugleich jeden höheren An-
spruch negiert, weil die bloße Erfüllung einer Prädestination nicht als indivi-
duelle Leistung einer Person gelten kann. Darin liegt in dieser Textpartie die
satirische Pointe, die N. noch dadurch forciert, dass er dem Diktum Lichten-
bergs hier den Status einer biblischen Prophezeiung verleiht. - Wörtlich zitiert
N. anschließend den Aphorismus G 188 aus Lichtenbergs Sudelbüchern. Vgl.
dazu die Lichtenberg-Edition, die N. in seiner persönlichen Bibliothek hatte
(NPB 354-356): Georg Christoph Lichtenberg: Vermischte Schriften. Neue Origi-
nal-Ausgabe. 8 Bde, Bd. 2, 1867, 84: „Er hatte gar keinen Charakter, sondern
wenn er einen haben wollte, so mußte er immer erst einen annehmen.“ (Vgl.
auch Lichtenberg: Schriften und Briefe, Bd. 2,1971,166.) In N.s Nachlass finden
sich Notate zu Lichtenberg aus der Entstehungszeit von UBI DS: vgl. NL 1873,
TJ [5], KSA 7, 589 und NL 1873, TJ [12], KSA 7, 590 sowie NL 1873, TJ [21], KSA 7,
592-593 und NL 1873, TJ [25], KSA 7, 594.

10.
217, 1-2 ob es ihm besser anstehe, sich als faunischen, freigeisterischen Alten
in der Art Voltaires zu gebärden] Das Adjektiv ,faunisch‘ ist von dem altrömi-
schen Feld- und Waldgott Faunus abgeleitet und bedeutet: lüstern. Das libidi-
nöse Bedeutungsspektrum schließt an die mehrdeutige Semantik von Garten-
Vorstellungen an, die N. zuvor bereits polemisch auf David Friedrich Strauß
bezogen hat: So wird der Theologe Strauß zunächst als „unser epikureischer
Garten-Gott“ (216, 6-7) und wenig später als „der leicht geschürzte Garten-
künstler“ (216, 10-11) tituliert und insofern nicht nur mit der Philosophie des
Epikureismus, sondern auch mit dem antiken Gartengott Priapos in Verbin-
dung gebracht, der durch seine ithyphallische Gestalt auffällt und in der grie-
chischen Mythologie als Gott der Fruchtbarkeit gilt. - Als ,Freigeister4 oder
,Freidenker4 bezeichnete man im 18. Jahrhundert insbesondere die englischen
Deisten, die sich allein an der Vernunfterkenntnis orientierten, sich aufkläreri-
schen Prinzipien verpflichtet fühlten und die Existenz eines personalen, in das
weltliche Geschehen eingreifenden Gottes in Frage stellten. Hier ergeben sich
Affinitäten zur Lehre epikureischer Philosophen, die davon ausgingen, dass
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften