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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0230
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204 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

wahren will. Indeß, so bündig ich auch fassen möchte was ich zu sagen geden-
ke: als Beigabe zu meiner mit Absicht leichtgeschürzten Schrift würde es diese
beschweren; darum lasse ich es für sich ausgehen, zumal es nicht blos als
Vorwort zu der neuen, sondern zugleich als Nachwort für die Leser der frühe-
ren Ausgaben dienen soll.“ Auf diese Aussage von Strauß greift N. auch zu-
rück, wenn er ihn als „leicht geschürzte[n] Gartenkünstler“ bezeichnet (216,
10-11).
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) gilt neben Voltaire als wichtigster Re-
präsentant der französischen Aufklärung und als Wegbereiter der Französi-
schen Revolution. Mit seiner Gesellschafts- und Kulturkritik hatte er maßgebli-
chen Einfluss auf politische Theorien und pädagogische Konzepte seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts. Nach Rousseaus Anthropologie ist der Mensch von
Natur aus gut und erfährt erst im Prozess der Vergesellschaftung eine Entfrem-
dung von seiner ursprünglichen Natur. Sogar bis zur Bosheit reicht seine ge-
sellschaftlich bedingte moralische Depravation. Aus diesen Prämissen zieht
Rousseau im Bildungsroman Emile die Konsequenz, dass Kinder und Jugendli-
che möglichst weitgehend von den korrumpierenden Einflüssen der Zivilisa-
tion ferngehalten und ihrer natürlichen Entwicklung überlassen werden soll-
ten. - Im Kontext (218, 5-7) des obigen Zitats referiert N. eine Aussage von
Strauß (ANG 316), die insbesondere auf persönliche Darlegungen in den auto-
biographischen Confessions (Bekenntnisse) anspielt, die Rousseau von 1765 bis
1770 verfasste. In diesen Confessions bekennt Rousseau auch eigene Verfehlun-
gen.
Für N. hat Voltaire einen erheblich höheren Stellenwert (vgl. NK 214, 20-
27) als Rousseau, gegen den er wiederholt polemisiert. In UB III SE ist Rous-
seau durch seine pädagogischen und anthropologischen Konzepte als Autor
präsent. Dort differenziert N. zwischen drei Menschentypen: Anders als „der
Mensch Goethe’s“ und „der Mensch Schopenhauer’s“ (KSA 1, 369, 5) habe „der
Mensch Rousseau’s“ (KSA 1, 369, 4) eine nachhaltig wirkende „Kraft“ entfes-
selt, „welche zu ungestümen Revolutionen drängte und noch drängt“ (KSA 1,
369, 12-14). Zudem rekurriert N. in UB III SE auf die kulturkritischen Vorstel-
lungen Rousseaus, der Zivilisation, „Künste und Wissenschaften“ als Entar-
tungsphänomene betrachte (KSA 1, 369, 25-27), die den Menschen in Distanz
zur ,„heilige[n] Natur“4 gebracht haben (vgl. KSA 1, 369, 20). - Besonders kriti-
sche Akzente setzt N. in späteren Werken. So wendet er sich in Menschliches,
Allzumenschliches gegen den „Aberglaube[n] Rousseau’s“, der „an eine wun-
dergleiche, ursprüngliche, aber gleichsam verschüttete Güte der menschli-
chen Natur glaubt und den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Er-
ziehung, alle Schuld jener Verschüttung beimißt“ (KSA 2, 299, 15-19). Wenig
später polemisiert N. im Interesse der Aufklärung energisch gegen Rousseau:
 
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