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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0236
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210 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

sondern auch des Genies gewesen“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 550). Auf diese
These rekurriert N. in UB IDS (217, 15-19). Vgl. auch NK 217, 16-19.
Gerade bei „deutschen Schriftstellern“ diagnostiziert Schopenhauer - ähn-
lich wie später auch N. in UB I DS (220, 20 - 221, 8) - eine problematische
Neigung, „ihre sehr gewöhnlichen Gedanken in die ungewöhnlichsten Ausdrü-
cke, die gesuchtesten, preziösesten und seltsamsten Redensarten zu kleiden“
(PP II, Kap. 23, § 283, Hü 554). - Affinitäten zu dem für UB I-IV insgesamt pro-
grammatischen Ideal der ,Unzeitgemäßheit4 werden evident, wenn N. in
UB III SE Schopenhauer als Vorbild betrachtet, weil er „lehrte, einfach und
ehrlich, im Denken und Leben, also unzeitgemäss zu sein“ (KSA 1, 346, 12-
14). - In einem Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit von UB I DS scheint N.
ebenfalls auf die positive Vorstellung der ,Simplicität‘ Bezug zu nehmen, die
sich bei Lichtenberg und Schopenhauer findet, obwohl er beide an dieser Stelle
nicht ausdrücklich nennt: „Dem trockenen Philister steht einzig zu Nüchtern-
heit und Deutlichkeit; aber Strauß hat von der Simplicität des Genie’s gehört!“
(NL 1873, TI [63], KSA 7, 605). Hier wendet sich N. zugleich kritisch gegen
Strauß, indem er ihm implizit vorwirft, seinen Stil strategisch an die eigenen
Genie-Prätentionen anzupassen.
11.
221, 2 Dilapidation] Verfall, Verwahrlosung.
221, 4-8 „Wenn dies so fortgeht“, sagt er einmal, „so wird man anno 1900 die
deutschen Klassiker nicht mehr recht verstehen, indem man keine andere Spra-
che mehr kennen wird, als den Lumpen-Jargon der noblen „Jetztzeit“ — deren
Grundcharakter Impotenz ist.“] Im vorliegenden Kontext zitiert N. nahezu wört-
lich Aus Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß. Abhandlungen, An-
merkungen, Aphorismen und Fragmente (hg. von Julius Frauenstädt, 1864), der
sich in N.s Bibliothek befand (NPB 543). In den nachgelassenen Materialien zu
einer Abhandlung über den argen Unfug, der in jetziger Zeit mit der deutschen
Sprache getrieben wird (ebd., 53-102) entfaltet Schopenhauer eine radikale
Sprach- und Kulturkritik. In dem von N. zitierten Zusammenhang formuliert er
die negative Zukunftsprognose: „Von den Schreibern dieses Zeitalters wird
nichts auf die Nachwelt kommen, als bloß ihr Sprachverderb; - weil dieser
sich forterbt, wie die Syphilis: es sei denn, daß es noch ein Häuflein denkender
und verständiger Gelehrter gebe, der Sache bei Zeiten Einhalt zu thun. Wenn
dies so seinen Fortgang hat, so wird man Ao. 1900 die deutschen Klassiker
nicht mehr recht verstehen, indem man keine andere Sprache mehr kennen
wird, als den Lumpen-Jargon nobler Jetztzeit4, - deren Grundcharakterzug Im-
 
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