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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0240
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214 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Recht maaßen sich die Zeitungsschreiber und Journalisten einer litterarisch he-
runtergekommenen Periode an, die Sprache zu reformiren? Sie thun es aber
nach dem Maaßstabe ihrer Unwissenheit, Urtheilslosigkeit und Gemeinheit.
Aber Gelehrte und Professoren, die ihre Verbesserungen annehmen, stellen sich
damit ein Diplom der Unwissenheit und Gemeinheit aus“ (Aus Arthur Schopen-
hauers handschriftlichem Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorismen
und Fragmente, hg. von Julius Frauenstädt, 1864 [NPB 543], 63). - Einige Seiten
später propagiert Schopenhauer ein Antidot: „Wenigstens sollte man den
schändlichen Jargon, in welchem meistens die deutschen Zeitungen geschrie-
ben sind, öffentlich stigmatisiren als Zeitungsdeutsch4, mit Verwarnung
der Jugend, daß sie nicht Grammatik und Orthographie aus diesen Publikatio-
nen erlerne, vielmehr daraus ersehe, wie man nicht schreiben soll“ (ebd., 66).
Die Beeinflussung durch Schopenhauers Sprachkritik und Journalisten-
Schelte lassen N.s frühe Schriften an zahlreichen Stellen erkennen. So charak-
terisiert N. im zweiten seiner nachgelassenen Vorträge Ueber die Zukunft unse-
rer Bildungsanstalten „die litterarischen Züge unsrer Journalistik ebenso wie
unseres Gelehrtenthums“ als „die vollendete Stillosigkeit, das Unausgegoh-
rene [...] oder Kläglich-Gespreizte“ (KSA 1, 681, 7-11). Auch in seinem kritisch
gegen Journalismus und defizitäres Literatentum gerichteten Schlagwort „Bil-
dungsbarbarei“ (KSA 1, 671, 28) wirkt die Sprachkritik Schopenhauers weiter.
„In der Journalistik“ diagnostiziert N. zwei gegenläufige Problemkonstellatio-
nen: „Erweiterung und Verminderung der Bildung reichen sich hier die Hand;
das Journal tritt geradezu an die Stelle der Bildung, und wer, auch als Gelehr-
ter, jetzt noch Bildungsansprüche macht, pflegt sich an jene klebrige Vermitt-
lungsschicht anzulehnen, die zwischen allen Lebensformen, allen Ständen, al-
len Künsten, allen Wissenschaften die Fugen verkittet und die so fest und
zuverlässig ist wie eben Journalpapier zu sein pflegt. Im Journal kulminirt die
eigenthümliche Bildungsabsicht der Gegenwart: wie ebenso der Journalist, der
Diener des Augenblicks, an die Stelle des großen Genius, des Führers für alle
Zeiten, des Erlösers vom Augenblick, getreten ist“ (KSA 1, 671, 3-14).
Die Ursachen für die symptomatischen Depravationen in Bildung und Kul-
tur seiner Zeit, die auch dem Journalismus Vorschub leisteten und die Sprach-
kultur verkommen ließen, glaubt N. in den Gymnasien finden zu können, de-
nen er fehlende Sorgfalt bei der sprachlichen Ausbildung Heranwachsender
vorwirft. Gemäß der kritischen Kulturdiagnose, die er im zweiten seiner Vor-
träge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten formuliert, haben sie maß-
geblich dazu beigetragen, dass ein „Bündniß der Gelehrsamkeit mit der Barba-
rei des Geschmacks, der Wissenschaft mit der Journalistik“ entstehen konnte
(KSA 1, 685, 13-14). - Bereits in der Geburt der Tragödie spezifiziert N. die kul-
turellen Depravationen seiner Epoche auch unter Rekurs auf das zeitgenössi-
 
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