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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0246
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220 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Volker Gerhardt 1986, 45-61.) Mit seinen Gedanken-Experimenten folgt N. Kon-
zepten Schopenhauers, der das Gleichnis als Erkenntnisstimulans propagiert,
beispielsweise in seinem Text „lieber Schriftstellerei und Stil“, dem 23. Kapitel
der Parerga und Paralipomena II. Hier betont Schopenhauer: „Gleichnisse
sind von großem Werthe; sofern sie ein unbekanntes Verhältniß auf ein be-
kanntes zurückführen. [...] - Sogar beruht alle Begriffsbildung im Grunde auf
Gleichnissen; sofern sie aus dem Auffassen des Aehnlichen, und Fallenlassen
des Unähnlichen in den Dingen erwächst. Ferner besteht jedes eigentliche
Verstehn zuletzt in einem Auffassen von Verhältnissen [...]. Eben weil Gleich-
nisse ein so mächtiger Hebel für die Erkenntniß sind, zeugt das Aufstellen
überraschender und dabei treffender Gleichnisse von einem tiefen Verstände“
(PP II, Kap. 23, § 289, Hü 584). Anschließend beruft sich Schopenhauer auf
Aristoteles (vgl. ebd., 584-585), der die bildhafte Diktion als Signum eines ge-
nialen Intellekts und als Ausweis philosophischen Scharfsinns betrachtet, ihr
höchste poetische Dignität zuschreibt und zugleich ihren Erkenntniswert be-
tont (Poetik, Kap. 22; Rhetorik III, 11). Schopenhauer, der in der anschaulichen
Erkenntnis eine essentielle Gemeinsamkeit von Philosophie und Kunst sieht, er-
klärt prononciert: „Alle tiefe Erkenntniß, sogar die eigentliche Weisheit, wurzelt
in der anschaulichen Auffassung der Dinge“ (WWV II, Kap. 31, Hü 432),
durch die „jedes ächte Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke, den Lebensfun-
ken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern“ (WWV II, Kap. 31, Hü 433).
Analog zu Schopenhauer betont auch N. derartige Interferenzen zwischen
Philosophie und Kunst. In der Entstehungszeit von UB I DS propagiert er 1872/
73 in einem Nachlass-Notat synthetische Denkweisen und Gestaltungsprinzipi-
en. So erklärt N., er könne sich „eine ganz neue Art des Philosophen-
Künstlers imaginiren, der ein Kunstwerk hinein in die Lücke stellt, mit
ästhetischem Werthe“ (NL 1872-1873, 19 [39], KSA 7, 431). Dabei sucht er Aus-
wege aus der systematischen „Verlegenheit, ob die Philosophie eine Kunst oder
eine Wissenschaft ist“ (NL 1872-1873, 19 [62], KSA 7, 439). Aus dem Dilemma,
dass sie „nicht unterzubringen“ sei, zieht N. die Konsequenz: „deshalb müssen
wir eine Species erfinden und charakterisiren“ (ebd.), in der sich Erkennen
und Dichten verbinden. Und bereits 1872/73 formuliert er die programmatische
These, der Philosoph „erkennt, indem er dichtet, und dichtet, indem er er-
kennt“ (NL 1872-1873, 19 [62], KSA 7, 439). Mit diesem Diktum suggeriert N.,
das genuine Potential von philosophischer Reflexion könne sich durch eine
Synthese mit poetischer Kreativität erst voll entfalten.
Thesen dieser Art verbindet N. mit dem Anspruch, selbst Künstler und Phi-
losoph in Personalunion zu sein. In diesem Sinne erklärt er im November 1882
in einer Briefdisposition: „ich war auf Einmal / Philolog, Schriftsteller Musi-
ker Philosoph / Freidenker usw (vielleicht Dichter? usw)“ (KSB 6, Nr. 336,
 
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