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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0250
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224 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Redner über ihre divergenten Auffassungen, auch im Hinblick auf die Relation
zwischen Rhetorik und Poetik. Dabei wendet sich einer der Beteiligten gegen
den Einsatz archaisierender Stilformen in der Rhetorik. - Franz Overbeck er-
klärt in seinem (zur gleichen Zeit wie N.s UBI DS entstandenen) Buch Ueber
die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, Tacitus habe im „trajanischen
Rom“ einen Verfall der Rhetorik feststellen müssen, „als er für die grosse politi-
sche Beredtsamkeit früherer Tage keine Stätte mehr“ fand (Overbeck: Ueber
die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Streit- und Friedensschrift, 1873,
73).
227, 7-17 „denn bei diesen,“ sagt er, „habe ich doch eine regelrecht flxirte Spra-
che mit durchweg festgestellter und treulich beobachteter Grammatik und Ortho-
graphie vor mir und bin ganz dem Gedanken hingegeben, während ich im Deut-
schen jeden Augenblick gestört werde durch die Naseweisheit des Schreibers, der
seine grammatischen und orthographischen Grillen und knolligen Einfälle durch-
setzen will: wobei die sich frech spreizende Narrheit mich anwidert. Es ist wahr-
lich eine rechte Pein, eine schöne, alte, klassische Schriften besitzende Sprache
von Ignoranten und Eseln misshandeln zu sehen.“] N. zitiert hier aus einem der
letzten Manuskripte Schopenhauers: aus seinen sprachkritischen Materialien
zu einer Abhandlung über den argen Unfug, der in jetziger Zeit mit der deutschen
Sprache getrieben wird. Dieser Text erschien 1864 postum in dem von Julius
Frauenstädt edierten Band Aus Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nach-
laß. Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorismen und Fragmente (vgl. ebd., 53-
102), den N. besaß (NPB 543). In diesen sprachkritischen Materialien glaubt
Schopenhauer eklatante sprachliche Defizite bei deutschen Autoren diagnosti-
zieren zu können, um dann sogar zu bekennen, er lese „lieber in jeder anderen
Sprache, als Deutsch“ (ebd., 60). Diese Präferenz begründet Schopenhauer so:
„ich fühle eine wahre Erleichterung, wenn ich so ein deutsches Buch nothge-
drungen abgethan habe, mich wieder zu den anderen, neuen, wie alten Spra-
chen wenden zu können: denn bei diesen habe ich doch eine regelrecht fixirte
Sprache mit durchweg festgestellter und treulich beobachteter Grammatik und
Orthographie vor mir und bin ganz dem Gedanken hingegeben; während ich
im Deutschen jeden Augenblick gestört werde durch die Naseweisheit des
Schreibers, der seine grammatischen und orthographischen Grillen und knolli-
gen Einfälle durchsetzen will; wobei die sich frech spreizende Narrheit mich
anwidert. Es ist wahrlich eine rechte Pein, eine schöne, alte, klassische Schrif-
ten besitzende Sprache von Ignoranten und Eseln mißhandeln zu sehn“ (ebd.,
60-61). Dass Schopenhauer darin ein Symptom von weiterreichender Aussage-
kraft erblickt, zeigt seine prononcierte These: „Sprachverderbniß ist allemal
ein sicheres Zeichen der Degeneration der Litteratur eines Volkes“ (ebd., 64).
Schopenhauers resignatives Fazit lautet dann folgendermaßen: „Die deutsche
 
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