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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0252
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226 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

„habe dessen ,alten und neuen Glauben4 jetzt durchgelesen“ (KSB 4, Nr. 304,
S. 145). Anschließend erklärt N., er habe sich „ebenso über die Stumpfheit und
Gemeinheit des Autors wie des Denkers verwundert. Eine schöne Sammlung
von Stilproben der abscheulichsten Art soll öffentlich einmal zeigen, wie es
mit diesem angeblichen ,Classiker‘ steht“ (KSB 4, Nr. 304, S. 145). Bezeichnen-
derweise nimmt N. im direkten Kontext gleich zu Beginn des 12. Kapitels auf
Schopenhauer Bezug (vgl. dazu NK ZU, 32 - 228, 1). Denn seine eigene Strate-
gie, die auf Strauß’ ANG zielende Sprachkritik durch konkretes Anschauungs-
material zu exemplifizieren, entspricht dem Verfahren Schopenhauers, der in
seinen Parerga und Paralipomena II in Kapitel 23 „lieber Schriftstellerei und
Stil“ durch eine Vielzahl von Beispielen die gängigen „Sprachschnitzer“ der
„schlechten Skribenten jetziger Zeit“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 558, 557) geißelt
und teilweise auch analysiert, um auf die Leser spracherzieherisch zu wirken
(vgl. ebd., Hü 558-574). Nach den Prinzipien eines auch am Stil antiker Autoren
ausgebildeten Sprachkonservativismus entfaltet Schopenhauer seine Sprach-
kritik in einem nachgelassenen Manuskript mit dem Titel Materialien zu einer
Abhandlung über den argen Unfug, der in jetziger Zeit mit der deutschen Sprache
getrieben wird: vgl. die einschlägigen Passagen in Frauenstädts Edition Aus
Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkun-
gen, Aphorismen und Fragmente (1864), 68-99. N. besaß dieses Buch (NPB 543).
227, 32 - 228, 1 vielleicht würde sie Schopenhauer ganz allgemein betiteln:
„Neue Belege für den Lumpen-fargon der Jetztzeit“] Indem N. seine „Sammlung
von Stilproben“ (227, 31) hypothetisch mit einer Formulierung Schopenhauers
betitelt, orientiert er sich an dessen sprachkritischem Gestus. Dabei wiederholt
er eine Aussage Schopenhauers, auf die er in UB IDS bereits in einer früheren
Textpartie Bezug nimmt, wenn er dem „Lumpen-Jargon der noblen Jetztzeit4“
als „Grundcharakter Impotenz“ attestiert (221, 7-8). An beiden Stellen zitiert N.
aus einem nachgelassenen Manuskript Schopenhauers: aus den sprachkriti-
schen Materialien zu einer Abhandlung über den argen Unfug, der in jetziger Zeit
mit der deutschen Sprache getrieben wird (in Frauenstädts Edition Aus Arthur
Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkungen, Apho-
rismen und Fragmente, 1864, 53-102). Hier prognostiziert Schopenhauer: „Von
den Schreibern dieses Zeitalters wird nichts auf die Nachwelt kommen, als
bloß ihr Sprachverderb; - weil dieser sich forterbt, wie die Syphilis“ (ebd., 58).
Anschließend prognostiziert er für die Zeit um 1900, man werde „keine andere
Sprache mehr kennen [...] als den Lumpen-Jargon nobler Jetztzeit4, - deren
Grundcharakterzug Impotenz“ sei (ebd., 58). - Unter ausdrücklicher Berufung
auf Schopenhauer spricht N. in UB I DS an früherer Stelle auch von „den ,in
letzter Nacht ausgeheckten Monstra der Jetztzeit-Schreiberei4, wie Schopen-
hauer sagt“ (223, 2-4). Zum Begriff Jetztzeit4, den N. vor allem in seiner Basler
 
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