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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0277
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Stellenkommentar UB I DS 12, KSA 1, S. 242 251

klärt N. 1873 unter Rekurs auf Lichtenberg: „Wenn die ,Wir‘ von Strauß wirklich
so zahlreich“ sind, dann „trifft ein, was Lichtenberg prophezeit, daß unsre Zei-
ten noch einmal die dunklen heißen“ (NL 1873, 27 [5], KSA 7, 589). Anderen-
orts bezieht N. ebenfalls eine ,unzeitgemäße4 Position vom Standpunkt künfti-
ger Generationen aus, indem er behauptet, dass „eine hellere Nachwelt unserer
Zeit im höchsten Maasse den Vorwurf des Verdrehten und Verwachsenen ma-
chen wird“ (KSA 1, 407, 29-31). Vgl. auch NK 346, 12-14 und NK 407, 29-31.
In seiner frühen Schaffensphase sah N. das Ideal der ,Unzeitgemäßheit4
außer durch Schopenhauer auch durch Wagner idealtypisch verkörpert, den
er in einem Brief schon 1869 als „unzeitgemäß im schönsten Sinne“ bezeichne-
te (vgl. KSB 3, Nr. 22, S. 42). Rückblickend konstatiert N. auch noch in Ecce
homo, er habe Schopenhauer und Wagner in „der dritten und vierten Un-
zeitgemässen“ angesichts der kulturellen Krisensituation als „unzeitgemässe
Typen par excellence“ dargestellt (KSA 6, 316, 22 - 317, 2), weil sie sich auf
paradigmatische Weise von konventionellen Normen emanzipiert und die Be-
schränkungen ihrer Epoche überwunden haben.
Prinzipiell sieht N. das große Individuum in einem antagonistischen Ver-
hältnis zur eigenen Zeit. Vor dem Hintergrund seiner kritischen Epochendiag-
nose verbindet er mit dieser Einschätzung einen missionarischen Anspruch auf
die Neugestaltung der Kultur. So formuliert N. in einem Brief an Carl von Gers-
dorff am 4. Februar 1872 das Plädoyer: „Was Du auch thun magst - denke
daran dass wir beide mit berufen sind, an einer Culturbewegung unter den
Ersten zu kämpfen und zu arbeiten, welche vielleicht in der nächsten Genera-
tion, vielleicht noch später der grossem Masse sich mittheilt“ (KSB 3, Nr. 197,
S. 286). Vgl. auch NK 480, 22-24 und NK 484, 2-8. - Dass sich die programma-
tische Intention auf philosophische ,Unzeitgemäßheit4 bis in N.s letzte Schaf-
fensphase prolongiert und auch dort noch konstitutive Bedeutung hat, zeigt
ein Passus seiner Spätschrift Der Fall Wagner. Dort setzt N. das rhetorische
Stilmittel des Dialogismus ein, um sein philosophisches Selbstverständnis mit
besonderer Emphase zu inszenieren: „Was verlangt ein Philosoph am ersten
und letzten von sich? Seine Zeit in sich zu überwinden, ,zeitlos4 zu werden.
Womit also hat er seinen härtesten Strauss zu bestehn? Mit dem, worin gerade
er das Kind seiner Zeit ist. Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser
Zeit, will sagen ein decadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich
dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen“ (KSA 6,11,14-20).
 
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