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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0318
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292 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

durch ihr prekäres Übergewicht die vitalen „Instincte der Jugend“ und ihren
Idealismus „zu entwurzeln“ (323). Nur mithilfe einer „umhüllenden Atmosphä-
re“, die es ermögliche, „unhistorisch zu empfinden und zu handeln“ (323),
lasse sich das „Reich der Jugend“ sichern (324). Indem N. abschließend die
existentielle Bedeutung des Unhistorischen hervorhebt, schlägt er zugleich den
Bogen zum 1. Kapitel zurück.
10.
Das 10. Kapitel (324-334) hat eine wichtige Funktion für die konzeptionelle
Horizontbildung der Historienschrift, indem es das Thema „Jugend“ empha-
tisch zum Höhepunkt führt. Im Rückblick auf den Gesamtduktus der Historien-
schrift entfaltet N. eine selbstkritische Reflexion: „Den Gefahren der Historie
nachspürend“ und ihnen existentiell ausgesetzt, glaubt er sogar an sich selbst
die typischen Symptome „eines Uebermaasses von Historie“ diagnostizieren zu
können (324). So zeige auch die Historienschrift „ihren modernen Charakter“
durch „Unmässigkeit ihrer Kritik“, „Unreife“ sowie durch den Wechsel „von
Ironie zum Cynismus, von Stolz zur Skepsis“ (324).
Doch N. vertraut „der inspirirenden Macht“ der Jugend, die für ihn an die
Stelle „eines Genius“ tritt (324), wenn er energisch gegen die historisch formie-
rende Erziehung des zeitgenössischen Menschen protestiert (325). Er „fordert,
dass der Mensch vor allem zu leben lerne“ und die Historie strikt für die Zwe-
cke des Lebens funktionalisiere (325). Die wenigen Individuen, denen N. zuge-
steht, dass sie das Wesen von Poesie und Kultur wirklich kennen, sieht er auf
die philiströse Bildungsbehaglichkeit der Deutschen mit auffallendem Befrem-
den reagieren (325). Ein solcher Habitus unterscheide sich durch seine Ober-
flächlichkeit von „der Bildung wahrer Culturvölker“, für die Kultur authentisch
im Leben verwurzelt sein müsse (326). N. hält das Ideal der deutschen Bil-
dungskultur schon im Ansatz für verfehlt und unfruchtbar, weil sie den Typus
des lebensfernen Gelehrten fördere und „möglichst früh nutzbare“ Wissen-
schaftler hervorbringen wolle (326). Das Ergebnis sei aber bloß der „historisch-
aesthetische Bildungsphilister, der altkluge und neuweise Schwätzer“ (326).
Das Naturwidrige einer solchen Bildung erspüre instinktiv die Jugend, der N.
„zum Worte verhelfen“ will (326), um ihr Anliegen auch der Öffentlichkeit be-
wusst zu machen. Die zeitgenössischen Prinzipien der Erziehung hält er für
problematisch, weil ihr Kanon monoton auf ein historisches Bildungswissen
ziele, das nur aus indirekter Kenntnis der Vergangenheit, nicht aber aus kon-
kreter Lebensanschauung und aus eigener Erfahrung gewonnen sei (327). Auf
diese Weise werde ein „flüchtiger Spaziergänger in der Historie“ (327) zum
fragwürdigen Resultat einer solchen Pädagogik.
 
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